Kommentar Konservative Proteste: Sitzblockade mit Schlips
Die Demonstrationskultur in Deutschland hat sich geändert. Selbst Konservativen hocken sich inzwischen auf die Straße. Immerhin zeigt das, dass sie in der Defensive sind.
E in Universitätsrektor reißt sich das Hemd vom Leib und stellt sich halb nackt vor die Politiker der Stadt. Sein Hamburger Amtskollege Dieter Lenzen, bekannt für seine neoliberalen Überzeugungen, hockt im Sit-in unter wütenden Studierenden.
Das sind nur zwei Schlüsselbilder eines Protests, der aufgrund der angespannten Hochschulfinanzierung in Hamburg derzeit für Aufsehen sorgt. Beide Szenen stehen für eine interessante Entwicklung der Demonstrationskultur in Deutschland. Noch 2010 lautete die zentrale Erkenntnis der Bewegungsforschung, die Sitzblockade sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Heute gilt: Sie hat die schwarz-gelbe Randgesellschaft erfasst.
MARTIN KAUL ist Bewegungsredakteur der taz.
Jutetüten und Protestaufnäher, lange Haare, Schlendrian - diese Topklischees, mit denen Demonstranten gerne an den gesellschaftlichen Rand verwiesen wurden, ziehen nicht mehr. Der Grund ist, dass den mannigfaltigen Protestformen, die die neuen sozialen Bewegungen seit den 60er Jahren hervorbrachten, heute zu Recht politische Effektivität zugebilligt wird.
Darauf greift längst nicht mehr nur das klassischerweise als links wahrgenommene Lager zurück. In Villengegenden rund um Berlin bauen die Bestbetuchten der Gesellschaft Barrikaden, um sich freien Seezugang zu sichern. In Hamburg stoppt das konservative Lager mit basisdemokratischen Mitteln eine progressive Schulreform - und nun nutzen Topakademiker für ihre Botschaften eine kühl berechnete Bambule. Das ist schön. Denn die Sitzblockade mit Schlips ist eine Errungenschaft.
Erstens verweist sie auf die Effektivität der Mittel, die sich außerparlamentarische Gruppen in Jahrzehnten erarbeitet haben. Zweitens - darüber möge sich freuen wer will: Wo Konservative auf der Straße hocken, da sind sie auch in der Defensive.
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