Kommentar Hessen-SPD: Ypsilanti und die Himmelfahrt
Trotz Walters Konfrontationskurs ist es unwahrscheinlich, dass er seiner Chefin ein Bein stellt. Denn wenn Ypsilanti scheitert, geht Walter mit ihr unter.
Unter einer "loose cannon" verstanden Seeleute zur Zeit der Segelschifffahrt eine nicht festgezurrte Kanone, die im Sturm über Deck rollt und beträchtlichen Schaden anrichten konnte. Die Hessen-SPD scheint derzeit eine solche lose Kanone an Bord zu haben: Sie heißt Jürgen Walter. Erst lehnte der SPD-Landesvize vom rechten Parteiflügel einen Ministerposten im künftigen rot-grünen Kabinett ab, jetzt stimmte er auf dem Parteitag der Sozialdemokraten gegen den Koalitionsvertrag - und das, obwohl er bei den Verhandlungen selbst mit am Tisch saß.
Für Andrea Ypsilanti, die sich am Dienstag von einem Linksbündnis zur Ministerpräsidentin wählen lassen will, sind das ungünstige Vorzeichen. Doch trotz Walters Konfrontationskurs ist es unwahrscheinlich, dass er seiner Chefin ein Bein stellt. Denn wenn Ypsilanti scheitert, geht Walter mit ihr unter. Ganz gleich, wie er stimmt: Walter stünde als Verräter da, dem die Sozialdemokraten weder bei Neuwahlen noch in einer großen Koalition mit der CDU eine tragende Rolle zugestehen würden. Ausgerechnet Ypsilanti und Walter, die Kontrahenten, sind also zum gemeinsamen Erfolg verdammt.
Unwahrscheinlich ist auch, dass andere Ypsilanti-Gegner den Wirbel um Walter zum anonymen Königinnenmord bei der morgigen Abstimmung nutzen. Die SPDler wissen, wie groß der Schaden für ihre Partei wäre. Alle Parteien schweißt das Ziel zusammen, Roland Koch abzulösen. Die Grünen können im angestrebten Linksbündnis viel durchsetzen - und der Linken liegt zu viel daran, endlich im Westen Deutschlands mitzureden.
Die Gefahr, die von Walter ausgeht, ist eine andere. Sie zeigt, dass Ypsilantis Entscheidung, den Wirtschaftsflügel der SPD nicht stark genug einzubinden, ein Fehler war. Sie hat ihren Einsatz in einem ohnehin schon riskanten Spiel noch einmal erhöht. Mit frustrierten SPD-Rechten auf der einen und der Linkspartei auf der anderen Seite verfügt das Bündnis über starke Zentrifugalkräfte. Bei vielen Themen - etwa dem Haushalt - liegen die Vorstellungen weit auseinander. Ypsilanti mag deshalb die Wahl zur Ministerpräsidentin sicher überstehen. Danach aber wird sich zeigen, ob sie womöglich ein Himmelfahrtskommando anführt.
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