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Kommentar HauptschulenFluchtwege der Bildungsbürger

Anna Lehmann
Kommentar von Anna Lehmann

Nicht die Hauptschule, sondern das Gymnasium muss verschwinden. Denn in der Eliteförderanstalt wächst die Scheu vor Unter- und Mittelschicht.

D ie bissigsten Schulreformer werden zahm, sobald die eigenen Kinder die Grundschule durchlaufen haben. Skandieren sie vorher "Eine Schule für alle", darf es nachher für den eigenen Nachwuchs nur das Beste sein: das Gymnasium. Keine bildungsbewusste Bürgerin schickt ihre Kinder freiwillig auf eine Schule, die nicht zum Abitur führt. Daran ändert auch die Umwidmung der Hauptschule zu Realschule plus nichts, die Rheinland-Pfalz vorhat. Solche Reformen dienen vor allem dazu, die Gymnasien vor weiteren Angriffen zu schützen.

Die soziale Ungerechtigkeit des deutschen Schulsystems ist belegt: 80 Prozent der Schülerinnen an Gymnasien kommen aus der oberen Hälfte der sozialen Schicht - ihre Eltern verdienen mehr, haben bessere Schulabschlüsse und interessantere Berufe als die Unterschichtler. Die Auslese nach der vierten oder sechsten Klasse erschwert Kindern aus bildungsfernen Familien den Aufstieg. Ihre Mitschüler aus der Mittel- und Oberschicht haben im Bundesdurchschnitt sechsmal bessere Chancen auf einen Platz am Gymnasium. Die Elite reproduziert sich selbst. Dieser Trend setzt sich auch in Bundesländern fort, in denen es nominal keine Hauptschulen gibt. In Sachsen etwa, wo die Mittelschule Haupt- und Realschüler aufnimmt, und in Hamburg, wo Stadtteilschulen die verruchte Hauptschule ersetzen sollen. Selbst wenn nur noch zwei statt drei Schulformen existieren - die Klassengesellschaft bleibt. Mit zweifelhaften Erfolgen. Beispiele aus anderen Staaten zeigen, dass sich der Lernerfolg verbessert und die sozialen Barrieren niedriger sind, wenn Schüler länger gemeinsam miteinander und voneinander lernen.

Das alles ist bekannt. Es liegt nicht an mangelnder Erkenntnis, dass sich das Gymnasium weiterhin als Eliteförderanstalt behauptet, es geschieht vorsätzlich. In einer Gesellschaft, die durch wachsende Gegensätze zwischen Arm und Reich geprägt ist, wächst die Scheu der Mittel- vor der Unterschicht. Ein integratives Schulkonzept gelingt daher nur, wenn die Fluchtwege der Bildungsbürger geschlossen und die Gymnasien in ihrer jetzigen Form abgeschafft werden.

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Anna Lehmann
Leiterin Parlamentsbüro
Schwerpunkte SPD und Kanzleramt sowie Innenpolitik und Bildung. Leitete bis Februar 2022 gemeinschaftlich das Inlandsressort der taz und kümmerte sich um die Linkspartei. "Zur Elite bitte hier entlang: Kaderschmieden und Eliteschulen von heute" erschien 2016.

4 Kommentare

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  • M
    Medienfuzzi

    Die Propaganda von der Einheitsschule übersieht leider, dass auch Bildung ein Wettbewerb ist, in dem es zuallererst auf Eigenanstrengungen der Schüler, auch ihrer Eltern ankommt. Die Separierungsanstrengungen jener besseren Schüler aus der Mittelschicht von schlechten, ungehobelten, undisziplinierten, oft bildungsfeindlichen Schülern sind da nur zu verständlich. Wer läßt sich als Lernwilliger schon gern von Bildungsfeinden herunterziehen und wie so oft gar drangsalieren und mobben.

  • CL
    Carsten Loehr

    Intelligentere als die durchschnittlichen Wesen zeichnen sich wohl dadurch aus, dass sie ihr Umfeld - und ihre Situation darin - schneller begreifen. Von ihnen kann man erwarten, dass sie sich in unbefriedigenden Situationen (Unterforderung) eher zu helfen wissen. Oder es den fuer sie Verantwortlichen (auch aber nicht nur Eltern) auch verstaendlich machen koennen.

    Will sagen, wenn es nicht schon alleine ein Plus ist, ueberhaupt quer-gemeinschaftliche Situationen erleben zu koennen, an denen sie (er-)wachsen koennen, dann ist es aus gesellschaftlicher Sicht zumindest deutlich einfacher und effektiver, diesen Kindern in verschiedensten Formen mehr zu bieten, als minder begabten oder bis dato unerkannten "Groessen" zumindest gleiche Moeglichkeiten zu eroeffnen.

    Wer sich also unter "Nasen" fuehlt, der muss sich zu helfen wissen und Foerderung - auch von zu Hause - einfordern, sonst kann er vielleicht ein bisschen schneller rechnen, soziale Intelligenz wurde so aber nicht bewiesen. Und intelligente Koepfe ohne die Faehigkeiten sich in Netzwerken zu entwickeln und zu verstaerken, werden langfristig nicht viel Spass an ihren Faehigkeiten haben.

    Daher auch meine Meinung, wer am Gymnasium festhaelt ist insofern besorgt um die Brut, das er/sie den Kuchen (im Sinne von bequemer und sorgenfreier Aufzucht) zu Gunsten der eigenen aufgeteilt sehen will.

    Und vergessen wir nicht auf das Ergebnis des jetzigen Systems zu sehen: Was passiert denn mit den de facto gefoerderten Gymnasiasten nach dem Abi? Sie landen in grossen Zahlen an Massenuniversitaeten, wo viele genauso wenig klarkommen, wie ein Hauptschueler im Gymnasium nicht klar kommen wuerde oder aber konkurrieren mit diesen unter unfairen Voraussetzungen um Lehrstellen.

    Gut schmeckt der Kuchen, gelle?

    Und ausserdem ist es einfach unfair, die abgleitende Situation der Hauptschulen alleine den Lehrern und Verantwortlichen dort zu ueberlassen, da muessen alle zupacken, in einer Schule!

     

    Von einem Abiturient mit Hochschulausbildung, selbststaendigem Ingenieur und wohlwissend, wem er was zu verdanken hat.

  • CB
    Christian Bonnet

    Alles schön und recht, nur müßte die Schule für alle dann so gestaltet werden, daß das Niveau nicht sinkt, und sich die Guten nicht langweilen. Mir war in der Grundschule damals stinklangweilig, und ich war heilfroh, endlich aufs Gymnasium zu können, was schneller lernen zu dürfen (nicht ewig rumkauen) und gefordert zu sein. Man darf auch die Intellektuellen nicht benachteiligen!

  • CB
    Christian Bonnet

    Alles schön und recht - dann muß die Gemeinschaftsschule für alle aber so sein, daß die Guten nicht unterfordert sind. Mir war damls in der Grundschule schrecklichst langweilig,und ich war sowas von froh, endlich aufs Gymnasium zu dürfen. Weitere Jahre mit den Nasen der Grundschule, ne danke!