Kommentar Hartz IV-Jubiläum: Packungsbeilage zur Agenda 2010
Die Armen bleiben arm, der Teile des Mittelstands rutschen ab - Gewinner von alledem ist die Linkspartei, die Wut und Ohnmacht von Millionen auffängt.
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik im Inlandsressort der taz.
In der Politik geht es zu wie in der Apotheke: Oft sind die Risiken und Nebenwirkungen fast so bemerkenswert wie der Haupteffekt einer Medizin. Und die Placebowirkung ist auch nicht ohne. Dies zeigt sich auch jetzt, fünf Jahre nachdem SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010, also die Sozialreformen in Rente, Gesundheit und Arbeitslosensicherung ankündigte und dabei das Wort "Eigenverantwortung" für den normalen Sprachgebrauch hoffnungslos versaute.
Heute weiß man: Nicht die "Eigenverantwortung" wurde gestärkt. Die Verteilungskämpfe sind subtiler geworden, die Ressentiments schärfer. Die Agenda begrub den sozialen Traum in Deutschland, dass der Lohn für Arbeit, Lebensleistung, dass Gesundheitsversorgung gerecht für alle kollektiv abgesichert werden kann. Dass eine Schichtzugehörigkeit und das damit verbundene Identitätsgefühl ein Leben lang unangetastet bleiben.
Stattdessen kursieren beunruhigende Studien. Danach bleiben die Armen dauerhafter arm, während die Reichen noch wohlhabender werden. Vor allem: In den mittleren Milieus tun sich feine Risse auf. Auch mittlere Verdiener können im Alter leicht in Armut rutschen, wenn ihr Job verlorengeht und dann die Geschäftsidee nicht klappt. Vernünftig bezahlte ABM-Stellen gibt es schon lange nicht mehr, auf die gesetzliche Rente ist kein Verlass. Die Mittelschicht differenziert sich aus: in jene, die zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Firma angefangen haben, und andere, die zum falschen Zeitpunkt ihren Job verloren. Vielleicht wird deswegen so viel und so pauschal über die "Polarisierung" der Gesellschaft in oben und unten geredet.
Linken-Chef Oskar Lafontaine geißelte am Donnerstag die Reformen als "neoliberalen Holzweg". Dabei sind die Linken die Gewinner der Agenda. Denn das Wut- und Ohnmachtsgefühl, das Millionen von WählerInnen angesichts der sozialen Einschnitte befiel, beschert den Linken Stimmengewinne, die sie jetzt zu einer unverrückbaren Rechengröße auch in der westdeutschen Parteienlandschaft machen. Auch diese Nebenwirkung hätte man sich in der rot-grünen Koalition damals wohl nicht träumen lassen.
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