Kommentar Grüne in Hessen: Den Spielraum nutzen
Im Fünfparteiensystem liegen Chancen für die Grünen, die ihre Führung nicht nutzt. In Hessen können sie in zwei Richtungen experimentieren, ohne als Umfaller zu gelten.
Claus Leggewie ist seit Sommer 2007 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen und beschäftigt sich unter anderem mit kultureller Globalisierung, Rechtsradikalismus und dem modernen Islam.
Das politische Patt in Hessen ist keine Katastrophe. Es ist vielmehr getreuer Ausdruck der politischen Unübersichtlichkeit, die ein nunmehr landesweit etabliertes Fünf-Parteien-System mit sich bringt. Die Gründe für die Schwäche der Großparteien sind lange bekannt: Parteibindungen schwächen sich ab, sozialmoralische Milieus lösen sich auf, die Wähler werden flatterhafter und entscheiden sich situationsbezogener. Die hessischen Verhältnisse sind mit anderen Worten deutsche und europäische Normalität. Und die verändert man nicht mit großen Koalitionen.
Doch wie sieht es mit den Alternativen aus? Eine Lösung geht wohl wirklich nicht: die Ampelkoalition. Ein Jamaika-Bündnis leuchtet zwar auf den zweiten Blick durchaus ein, aber es traut sich niemand, es zu versuchen. Konsequent wäre eine weitere Lösung, nämlich die Linkskoalition. Doch die scheut Beck wie das Weihwasser - und deswegen droht die Lösung, die eigentlich keiner will: Rot-Schwarz. Man rückt sie im Blick auf die Bundestagswahl nach vorn, obwohl genau damit 2009 die Optionen für kleine Koalitionen schwinden.
Das ungeliebte Bündnis zwischen Union und SPD kommt nur, wenn alle kleineren Parteien sich wechselseitig verweigern. Oder wenn Andrea Ypsilanti eine Tolerierung durch die Linke ablehnt, um nicht von der eigenen Fraktion demontiert zu werden wie einst Heide Simonis in Schleswig-Holstein. Möglich auch, dass die große Koalition kommt, weil Ypsilanti die Linkskoalition wagt und damit scheitert.
Daniel Cohn-Bendit hat die Linkskoalition gleichwohl empfohlen, weil er sich von einer rot-grünen Minderheitenregierung ein segensreiches landespolitisches Handeln erhofft - in der Schul- und Energiepolitik genau wie via Bundesrat in der Sozialpolitik. Damit rettete sie nebenbei sogar die Ehre der Landtage, deren Wahl gänzlich zum Probelauf für Berlin degradiert zu werden droht.
Konsequenter wäre es allerdings, wenn die widerstrebenden Partner SPD, Grüne und Linkspartei eine reguläre Koalition eingingen. Doch das tun die Grünen ebenso wenig, wie sie sich für andere Optionen offen zeigen. So bewegen sie sich keinen Deut aus der babylonischen Gefangenschaft des "rot-grünen Projektes" heraus, das derzeit offenbar bei den Wählern überhaupt nicht ankommt. Wer herkömmlichen Ökopax-Optionen - Atomausstieg, soziale Grundsicherung, Menschenrechts- und Minderheitenschutz, Friedenspolitik - treu bleibt, erreicht dies heute, jedenfalls in Westdeutschland, nur unter Einschluss der Linken, der nunmehr vierten sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Zur Erklärung: Die CDU ist die größte Arbeitnehmerpartei, also eine strukturelle Sozialdemokratie. Die SPD ist die Partei der älteren Staatsdiener, eine Schrumpf-SPD; Grün ist die Partei des linksliberalen Mittelstandes, eine Öko-SPD, und die West-Linke ist die gewerkschaftslinke Gefühls-SPD, wozu im Osten noch die PDS als Law-&-Order-SPD kommt. So vieldeutig war das wohl kaum gemeint, als die vermeintliche Wahlsiegerin in Wiesbaden ausrief: Die Sozialdemokratie ist zurück. Unterm Strich ist die SPD damit gescheitert, Arbeitnehmer und Arbeitslose zurückzuholen und ihre Stammwählerschaft zufriedenzustellen, ihre eigene Ambivalenz hat die Linke im Westen etabliert.
Ein Anachronismus ist nicht nur das letztlich auf Ressentiments gegen den "Verräter" Oskar Lafontaine zurückgehende Koalitionsverbot der SPD, auch die von den Bündnisgrünen verhängte Quarantäne ist kaum zu halten. Die Linke ist, genau wie einst das Generationsprojekt der Grünen in der Ära Helmut Schmidt, Fleisch aus dem Fleische der SPD, bleibt also Familienmitglied der "Mehrheit links von der Union", die Willy Brandt im Auge hatte. Wenn dies eine virtuelle Mehrheit bleibt, liegt das an der Selbstfesselung der gesamten Linken, die lieber politische Hygiene betreibt und darob den überfälligen sozialpolitischen Aufbruch verfehlt.
Wenn ihn Gysi und Lafontaine auf ganz traditionalistische und illusionäre Weise anpacken, nämlich nationalprotektionistisch gegen Globalisierung und mit dem umverteilenden Interventionsstaat gegen soziale Desintegration - dann müssen Sozialdemokraten und Grüne eigene Alternativen darlegen. Denn im Grundsatz hat die Linke ja recht: Wachsender Exklusion, empörender Ungerechtigkeit und der Gleichgültigkeit der Managereliten kommt eine weichgespülte "Schröder-Agenda" nicht bei. Aufgabe der Linken wäre wenigstens ein Versuch der Kontrolle des aus dem Ruder gelaufenen Finanzkapitalismus. Man sollte sich also erneut mit Vorschlägen befassen, die in der Inkubationsphase des rot-grünen Projektes auf eine Teilung der Arbeit hinausliefen und gerade damit familien- und bildungspolitische Spielräume eröffnet haben. Das ist die Linke 2.0.
Wer sich zu dieser radikalen Tat nicht durchringen kann oder will, hat im deutschen Parteiensystem noch eine andere, zunächst völlig konträr wirkende Option. Und wieder könnten die Grünen, die im besten Sinne Opportunisten wären, eine politische Gelegenheit nutzen. Sie müssten nur mit Christdemokraten und Liberalen ein Zweckbündnis eingehen. Diese Reise nach Jamaika erscheint vielen absurd, aber heute würde sie den rechtsbürgerlichen Kräften mehr abverlangen als den linksliberalen. Denn man träte in eine Koalition ein, die nach Roland Kochs politischem Harakiri (und Abgang) zwangsläufig ihr Gesicht verändert.
Kochs politische Feinderklärung erinnert an den Irrationalismus der Weimarer Rechten; ohne sie hätte der Ministerpräsident die Wahl locker gewonnen und mit der FDP den Flughafen ausbauen, Biblis wieder anschalten können und so weiter. Das verbietet sich jetzt schon aus Gründen der politischen Arithmetik. Die Grünen verteuern ihre Machtbeteiligung und gewinnen mit der zurechtgestutzten Christdemokratie und ihrem liberalen Juniorpartner einen begrenzten Vorrat an Möglichkeiten in der Bildungs- und Energiepolitik.
Sicher ist die hessische CDU, die für den Machterhalt gewaltige Kröten schlucken müsste, den Grünen politisch-kulturell ein Graus. Doch sozialstrukturell ist dieses Projekt nicht weiter von der ominösen grünen Basis entfernt als die "unmögliche" Allianz mit der Linken. Wer an schwarzen, gelben und grünen Dogmen hängt, mag die Planspiele anstößig finden; doch im Fünfparteiensystem weichen einstmals feste Lagergrenzen auf und können ohnehin nur bescheidene Teilerfolge erzielt werden - in gleichwohl relevanten Politikfeldern, auf denen sich grüne Marktwirtschaftler und Bildungsreformer auch praktisch bewähren können.
Hessen war immer schon das Experimentierfeld für neue politische Konstellationen. Die Grünen haben gute, wenn auch begrenzte Möglichkeiten, das politische Spiel zu machen - ihre Führung wirkt aber wie gelähmt. Wie sagt man im Fußball: Sie haben den Kopf nicht frei.
CLAUS LEGGEWIE
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