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Kommentar Geißlers SchlichterspruchVom Bürgerprotest zum Bürgerhaushalt

Martin Kaul
Kommentar von Martin Kaul

Absurd, dass die Idee des Bürgerhaushalts in Deutschland bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde. Das zu ändern kann der Erfolg der Schlichtung von Stuttgart sein.

N ein, wirklich Neues hat Schlichter Heiner Geißler in Stuttgart nicht verkündet: Der umstrittene Tiefbahnhof soll gebaut, einige Details sollen verbessert werden und die frei werdenden Flächen in der Stuttgarter Innenstadt müssen der Immobilienspekulation entzogen werden. Das nennt Geißler "Stuttgart 21 plus" - einen verbesserten Traumbahnhof. Der Nebeneffekt: Durch die Ver(schlimm)besserungen am Tiefbahnhof wird die von den Kritikern bemängelte Kostenexplosion noch weiter zunehmen. Kurz: Es ist abzusehen, dass das Thema Stuttgart 21 bis zur Landtagswahl im März 2011 weiter für Zoff sorgen wird. Gerade weil auch nicht zu erwarten war, dass die Schlichtungsrunde in Stuttgart zu mehr Erfolgen führt, als Geißler sie nun präsentieren konnte, ist zu fragen, was sich aus den letzten Wochen der politischen Auseinandersetzung lernen lässt. Und das ist beachtlich.

Denn in den Gesprächen am runden Tisch wurde klar: Die Bürger in Stuttgart waren nicht nur zu plumpen Dagegen-Protesten bereit, sondern beschäftigten sich auch umfassend mit Sachfragen. Sie stellten die richtigen Fragen und legten echte Alternativen vor. Das zeigt: Es ist Zeit für eine neue Politik. Es ist Zeit für die Einführung von Bürgerhaushalten.

Mit dem Instrument wurde im brasilianischen Porto Alegre, einer Stadt von der doppelten Größe Stuttgarts, in den letzten 20 Jahren Unglaubliches erreicht: Durch Mitsprache der Bevölkerung in Haushaltsfragen konnte dort binnen kurzer Zeit eine effektive Wasserversorgung, bessere Bildung und eine verstärkte Integration vormals ausgeschlossener Menschen erreicht werden. In einem nachhaltigen Prozess bestimmen Bürger dort ganz konkret mit, wie öffentliche Gelder verteilt werden sollen, und zwar bevor sie ausgegeben werden.

Bild: taz

Martin Kaul ist als taz-Redakteur zuständig für das Thema Soziale Bewegungen.

Der Effekt: Die Bürger fühlen sich ernst genommen. Das Geld fließt dahin, wo es gebraucht wird. Und auch für politisch missliebige Entscheidungen steigt die Akzeptanz. Es ist absurd, dass diese nachhaltige Idee in Deutschland bislang kaum zur Kenntnis genommen wird. Das zu ändern kann der Erfolg der Schlichtungsrunde von Stuttgart sein.

Denn aus dem Stuttgarter Konflikt zu lernen heißt: Nicht nur bei der weiteren Gestaltung der Stuttgarter Innenstadt, sondern auch in anderen Haushaltsfragen ihrer Kommunen müssen Bürger künftig aktiver, umfassender und frühzeitiger eingebunden werden. Wer sich dieser Idee nun annimmt, kann ein echtes Innovationsprodukt entwickeln: die Demokratie-Erneuerung in unseren Kommunen.

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Martin Kaul
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4 Kommentare

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  • I
    IAdmitIAmCrazy

    "Allerdings wird keiner, der mal in Porto Alegre und in Stuttgart war, erstere Stadt als leuchtendes Beispiel hinstellen." (30.11., 21:49)

     

    Lieber Stefan, sauber in der Argumentation daneben gelangt! Das Vorbild ist das Verfahren, und das zeigt, dass in Porto Alegre Bürgerbeteiligung unter den sehr viel beengteren finanziellen Möglichkeiten funktioniert, und auch dann, wenn unter eigentlich elementaren und unverzichtbaren Dingen Prioritäten gesetzt werden müssen. Verglichen damit ist Stuttgart 21 ein Luxusproblem.

     

    Wenn aber das "orçamento participativo" beim Aufstellen eines städtischen haushalts schon bei städtischen Basisproblemen funktioniert, dann doch umso eher auch bei "Luxusproblemen".

     

    Die Bürgerbeteiligung in Porto Alegre hat in Brasilien, in Lateinamerika und anderswo Schule gemacht, da sollten wir uns in Deutschland nicht an dem historisch begründeten Entwicklungsrücksstand Porto Alegres reiben.

  • L
    Lutz

    Dass sich die Gegner fundiert mit dem unsäglichen Projekt S21 beschäftigt haben und eine überlegene Alternative K21 vorlegen konnten, war aber auch schon vor der "Schlichtung" klar. Natürlich war es der CDU bisher gelungen, die Öffentlichkeit darüber zu täuschen und Umweltverbände, VCD und Grüne als Verhinderer zu diffamieren. Daraus folgt aber nur, dass die CDU endlich weg muss.

  • MD
    michael dreyer

    pardon, geißler hinterlässt einen scherbenhaufen, denn das ziel, die stadt zu "befrieden", hätte er erreichen können, indem er die einwände sachlich aufgreift als eine grundsätzliche kritik an der techno-ästhetik der mobilität, die grundsätzlich aggressiv auftritt, vom kühlergrill der autos bis zum den zwangsmitteln der polizei, die zur durchsetzung abkommandiert werden. dass nun als demokratiemodell und partizipation angesehen wird, wenn fehlplanung durch zirkusveranstaltungen verharmlost wird, mag das für die sozialtechnologen ein zukunftsmodell sein, nicht aber für die in stuttgart gewachsene institutionskritik des designt. man lese bei lucius burckhardt nach: "wer plant die planung?" . man blicke in spiegel, stern und taz... offenbar versteht außerhalb dieser stadt kaum jemand, was für ein städtbauliches monstrum der geplante tiefbahnhof ist. journalisten sind ice fahrer, geißler ein cdu-politiker, der architekt ein pseudofunktionalist und sein entwurf tatsächlich sein gesellenstück. "s 21 plus" schließlich ist keine reformversion sondern ein dysfunktionaler greenwashed ingenieursentwurf.

  • S
    Stefan

    Allerdings wird keiner, der mal in Porto Alegre und in Stuttgart war, erstere Stadt als leuchtendes Beispiel hinstellen. Offensichtlich hat da die Stadtentwicklung in Stuttgart in den letzten 20 Jahren deutlich besser funktioniert. Immerhin streitet man hier nicht darum, ob man die Haushalte in Stuttgart mit einer Wasserversorgung beglückt...