Kommentar DIW-Prognose: Elend der Wirtschaftswissenschaften
Das Forschungsinstitut DIW möchte für das nächste Jahr keine Prognose wagen - und verschließt die Augen vor der Wirklichkeit.
D er Boom geht weiter! So bejubelte die Presse vor zwei Jahren das Frühjahrsgutachten der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, das für 2007 und 2008 je 2,4 Prozent Wachstum versprach. Drei Monate später, im Juli 2007, begann mit der Pleite zweier US-Hedgefonds die Finanzkrise. Vor einem Jahr glaubten die Wirtschaftsforscher immer noch an 1,8 Prozent Wachstum in 2008 (tatsächlich wurden es 1,3 Prozent) und an 1,4 Prozent in 2009 (jetzt werden minus 5 Prozent erwartet).
Es ist keineswegs nur die Unberechenbarkeit der Finanzkrise, die die Ökonomen ins Stolpern bringt. Im Frühjahr 2000 etwa sagten sie für 2001 ein Wachstum von 2,8 Prozent voraus. Es wurden nur 0,6 Prozent. Ein Jahr später lag die Prognose bei 2,2 Prozent, die Realität bei 0,2 Prozent. Man könnte mit einem Kopfschütteln darüber hinweggehen, würde nicht basierend auf solchen Prognosen und den dahinter stehenden theoretischen Annahmen reale Wirtschaftspolitik betrieben.
Über „das Elend der Philosophie“ lästerte einst Marx. Er meinte die Theorien des Anarchisten Proudhon, der die realen wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht begriffen habe. Heute würde Marx vermutlich das Elend der Volkswirtschaftslehre beklagen. Diese kann einpacken, wenn sie nicht anfängt, über ihre ökonometrischen Modelle hinaus die Wirklichkeit wahrzunehmen. Neue Situationen wie die derzeitige Kreditklemme werden in den Modellen gar nicht oder erst verspä- tet berücksichtigt. Auch dass Marktteilnehmer nicht nur rational, sondern auch emotional handeln – der Begriff der Börsenpanik deutet es an –, wird trotz mehrerer Nobelpreise für entsprechende Theorien weitgehend ignoriert. Psychologie lässt sich halt schlecht mit dem Computer berechnen. Harte Ökonomen tun sie als „weiche“ Wissenschaft ab.
Das Berliner Forschungsinstitut DIW kapitulierte jetzt vor der Realität und legte sich für nächstes Jahr auf keine Zahl mehr fest. Es wäre schön gewesen, wenn die Wirtschaftswissenschaftler nicht nur ihre Unfähigkeit, längerfristige Prognosen zu erstellen, eingestanden hätten, sondern auch offensiv die Probleme thematisieren würden, die dahinter stehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe