Kommentar Clement über Ypsilanti: Die Vision gehört ins Tagesgeschäft
Mit seinen Äußerungen stellt Clement Ypsilantis Ankündigung, aus Kohle und Atomkraft auszusteigen, in die spinnerte Ecke. Dabei bemüht sie sich schlicht, etwas zu verändern.
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik im Inlandsressort der taz.
Wer Neues schaffen will, für den hält die Kreativitätsforschung ein Drei-Punkte-Programm parat: Zuerst kommt die Vision, das Denken von Veränderung. Dann folgt ein realistischer Blick, die Frage nach der Machbarkeit. Schließlich braucht man auch die Kritik, den "Blick von außen". Vor diesem Hintergrund ist der Streit über die Äußerungen des ehemaligen SPD-Wirtschaftsministers Wolfgang Clement interessant. An ihm lässt sich gut ablesen, wie in der Öffentlichkeit Debatten um Neues geführt werden.
Die hessische SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti möchte aus der Atomkraft und Kohle aussteigen. Clement, heute im Aufsichtsrat des Energiekonzerns RWE, rügte, dies ginge nur "um den Preis der industriellen Substanz Hessens". Nun ist es natürlich durchgeknallt, eine Woche vor einer Landtagswahl indirekt zur Nichtwahl einer Genossin zu raten. Die Tatsache, dass Clement nach seiner politischen Karriere auf profitable Posten in die Wirtschaft wechselte, lässt seine Sätze erst recht dreist erscheinen. Davon abgesehen aber lassen seine Äußerungen ein bekanntes Argumentationsmuster erkennen: Die Interessen der Wirtschaft inszenieren sich als dem Realitätsprinzip verpflichtet, demgegenüber ist die Politik nur das Spielfeld von Naivlingen.
Wer am Sonntag gefragt sei, nämlich der Wähler, der müsse verantwortungsbewusst abstimmen, sagt Clement. Damit schiebt er die ökologischen Vorhaben der SPD-Kandidatin in die spinnerte Ecke. Die Stimme der Wirtschaft, das Realitätsprinzip hingegen, ertönt als Stimme desjenigen, der wirkliche Verantwortung für uns alle trägt. Doch wenn die wirtschaftlichen Interessen allen dienen würden, dann hätten wir kein Problem mit der Abwanderung hochsubventionierter Unternehmen oder der Umweltbelastung, beispielsweise. Auch die Zukunft gehört zur Wirklichkeit. Um Neues zu schaffen, reicht das Beschwören eines Realitätsprinzips nicht aus. Da muss schon auch Vision und Vorausschau her. Vielleicht sogar etwas Fantasie. Das alles gehört zur politischen Verantwortlichkeit. BARBARA DRIBBUSCH
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