Kommentar Bundestag: Richter ersetzen Politiker
Dass Karlsruhe einspringen muss, wenn es im politischen Betrieb hakt, ist kein Zeichen fürs Funktionieren des Systems, sondern für seine Krise.
D ie Karlsruher Richter, so mag es scheinen, biegen alles wieder hin, was das Parlament vernachlässigt oder die Regierung unter den Tisch kehrt. So war es bei der Frage, wie viel Einfluss der Bundestag in einer EU haben darf, die den Vorgaben des Lissabon-Vertrags folgt. Auch als die Bundesregierung dem BND-Untersuchungsausschuss Informationen vorenthielt, sorgte das Gericht für Abhilfe. Und nun entschieden die Richter, die Regierung dürfe Fragen der Bundestagsabgeordneten nicht pauschal mit dem Hinweis abfertigen, die Antworten darauf seien zu geheim für die Volksvertretung.
Alles in Ordnung also? Keineswegs: Dass Karlsruhe einspringen muss, wenn es im politischen Betrieb hakt, ist kein Zeichen fürs Funktionieren des Systems, sondern für seine Krise.
Seit Jahren nehmen Abgeordnete und Öffentlichkeit resigniert die Entmachtung des Parlaments hin. Die meisten Entscheidungen fallen heute in Bundesministerien und in Brüssel, nicht im Bundestag. In vielen Fällen ist dies sogar rechtens und notwendig. Dennoch: Unter der sogenannten großen Koalition hat die Apathie unter den Parlamentariern ungeahnte Ausmaße angenommen.
Mitglieder der Regierungsfraktionen ergehen sich im Gefühl, im Zweifel ohnehin nur Stimmvieh für die Entscheidungen ihrer Parteioberen zu sein. Oppositionspolitiker hingegen müssen die doppelte Kränkung erdulden, nur protestieren zu können - und selbst damit kaum Gehör zu finden. Die Anrufung Karlsruhes erscheint da vielen als willkommener Hebel. Doch eine höchstrichterliche Entscheidung aus Karlsruhe sollte die Ausnahme bleiben und nicht zum Regelfall werden. Der Bundestag muss wieder selbstbewusster, lauter werden. Mit einer Neuauflage der großen Koalition geht das nicht.
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