Kommentar Berliner Rede: Köhler entdeckt die Solidarität
Köhlers Worte annoncieren: Wer weiter propagiert, Wachstum sei über das Füttern der Happy Few zu erreichen, ist nicht mehr konsensfähig. Ein erstaunlicher Wandel des Marktadepten.
Ines Kappert ist Redakteurin im taz-Meinungsressort.
Auf den ersten Blick überrascht die Berliner Rede von Horst Köhler. "Es geht um eine Weltwirtschaft", so sein Plädoyer für die Zukunft, "in der Kapital den Menschen dient und nicht Herrscher über die Menschen werden kann." Mit anderen Worten: Der gesellschaftliche Reichtum soll nicht mehr dazu dienen, den Gewinn der Eliten zu maximieren, sondern er soll die Lebensqualität der Menschen verbessern. Man staunt: Was ist das denn für ein Kitsch? Immerhin ist Köhler der ehemalige Geschäftsführer des Internationalen Währungsfonds und reiste auf dem FDP-Ticket ins Schloss Bellevue.
Doch unbeirrt fährt er fort: "Eigennutz im 21. Jahrhundert heißt: sich umeinander kümmern." Ohne Angst vor Widersprüchen wirbt damit ein gewichtiger Adept der marktradikalen Ideologie für einen starken Staat und für eine Gesellschaft, in der Solidarität wieder einen Wert darstellt.
Erinnern wir uns: Noch bis zum letzten Sommer hieß die herrschende Religion Wachstum, und das Ziel war, zur Elite zu gehören. Der Rest sollte sich bitte um sich selbst kümmern. Nun wirbt die hohe Politik dafür, dass "wir" uns von dieser fatalen "Freiheit ohne Verantwortung" wieder verabschieden. Das ist ein nicht eben kleines Projekt, den gesellschaftlichen Konsens zu reformulieren. Eine ganze Grammatik der Leistungsideologie und der Konkurrenz wird ausgetauscht zugunsten einer längst ausrangierten Rhetorik von der Würde der ehrlichen Arbeit und der gegenseitigen Fürsorge.
Natürlich sind Politikerworte immer strategischen Überlegungen geschuldet. Aber genau deshalb ist Köhlers Rede bemerkenswert. Denn seine Wortwahl annonciert: Wer weiter propagiert, Wachstum sei über die Fütterung der Happy Few zu erreichen, ist nicht mehr konsensfähig.
In dieser Korrektur liegt eine Chance: Wer Solidarität als Leitideologie fordert, macht die eigene Rede anschlussfähig für Forderungen seitens der Mehrheit. Ob Köhler will oder nicht: Sein Mea Culpa autorisiert die Basis, wieder Forderungen an den Staat als Institution der Umverteilung zu stellen. Auch wenn Köhler wohlweislich kein Wort über Steuern verloren hat - seine Rede zwingt förmlich dazu, höhere Steuern für Vermögende zu fordern.
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