Kommentar Arbeitszeitrichtlinien: Die 78-Stunden-Woche
Die Debatte über gemeinschaftliche Mindeststandards im Arbeitsrecht sollte vertagt werden, bis sich die EU-Mitglieder in der Frage nähergekommen sind, was soziale Marktwirtschaft bedeutet.
Ein dänischer Vater wird sich unter familienfreundlichen Arbeitszeiten etwas anderes vorstellen als ein französischer oder ein deutscher. 78 Wochenstunden aber, wie sie der von den EU-Sozialministern ausgehandelte Kompromiss zur Arbeitszeitrichtlinie erlaubt, dürfte keiner der drei mit seiner Vaterrolle in Einklang bringen können. Von den Müttern ganz zu schweigen.
Wenn die slowenische Sozialministerin nun behauptet, die Ministerrunde habe die Familien im Blick gehabt, hat sie entweder das Kleingedruckte nicht gelesen oder sie verkauft die Wähler für dumm. Denn die Klausel, dass jeder Beschäftigte diesen Überstunden zustimmen muss und eine Ablehnung ihm keine Nachteile bescheren darf, ist graue Theorie. Viele Wähler gehören inzwischen zum sogenannten Prekariat und wissen, dass sie ihre Zustimmung zu schwankenden Arbeitszeiten nicht verweigern können, wenn sie ihren Job behalten wollen. Und auch Arbeitnehmer mit soliden Arbeitsverträgen können sich in die Lage derer hineinversetzen, die mal 78 Wochenstunden gefragt sind, mal nur 11 Stunden arbeiten dürfen.
Slowenien wollte bei der Arbeitszeitrichtlinie und der Leiharbeit einen Kompromiss um jeden Preis. Er soll die an Resultaten arme Präsidentschaft des EU-Neulings aufpolieren und gleichzeitig die Europawahl in einem Jahr attraktiver machen. So leicht aber werden sich die Menschen die Arbeitswelt nicht schönreden lassen. Nicht umsonst fordern sie schließlich in Umfragen, dass Europa sich mehr für soziale Belange einsetzen soll.
Für eine gemeinsame Sozialpolitik aber fehlt Europa derzeit die Basis. Während Großbritannien und die meisten neuen Mitgliedsländer überzeugt sind, dass Arbeitnehmerflexibilität ein Wachstum schafft, das allen zugutekommt, glaubt die Mehrheit in Ländern wie Belgien und Frankreich, dass Arbeitnehmerrechte geschützt werden müssen. Die Debatte über gemeinschaftliche Mindeststandards im Arbeitsrecht sollte daher vertagt werden, bis sich die 27 alten und neuen EU-Mitglieder in der Frage nähergekommen sind, was soziale Marktwirtschaft bedeutet. Hoffentlich sind bis dahin nicht auch die letzten Wähler davongelaufen.
DANIELA WEINGÄRTNER
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