Kolumne: "Wieso, weshalb, warum?"
Das Leben ist keine Einbahnstraße: Es ist an der Zeit, den Bundesbürgern etwas zu verklickern.
Jahrelang haben die Westler mir ihre Welt erklärt und wie ich was zu machen habe. Dass man Lachsfilet an Dillsoße sagt und nicht mit oder in. Dass gebratene Leber und Blutwurst eklig und eigentlich nicht zu essen sind. Leidend habe ich es ertragen, wenn ich "magst du?" statt "möchtest du?" gefragt wurde. Jetzt ist es an der Zeit, dass ich als DDR-Bürger den Bundesbürgern etwas verklickere. Das Leben ist schließlich keine Einbahnstraße. Und der Solidarzuschlag ist kein Westpaket.
Deshalb habe ich mich sehr gefreut, als ich vor einigen Wochen gefragt wurde, ob ich nicht ein Seminar an einer privaten Reportageschule geben möchte. Aber hallo! Noch dazu war der Auftrag mit einem Ausflug in die große, weite Welt verbunden: nach Reutlingen in Schwaben. Dort ist der Sitz der Reportageschule "Günter Dahl". Ich stieg in Berlin ins Flugzeug, passend zu der Selbstbeschreibung der Reportageschule, die sich "schnellste Journalistenschule Deutschlands" nennt. Diese Behauptung leitet sich allerdings von der Tatsache ab, dass Porsche zu den Sponsoren gehört.
In Reutlingen hatte ich das Gefühl, Slow Food gehöre zu den Financiers der Schule - und der Stadt. Alles war so unaufgeregt und gemächlich. Als ich am ersten Tag auf der Suche nach der Straße mit Sitz der Volkshochschule war, wo das Seminar stattfand, ergab sich ein lustiger Dialog mit einer Einheimischen. Ich: "Kennen Sie die Straße?" Die Frau: "Kenne ich nicht." Ich: "Dort muss die Volkshochschule sein." Die Frau: "Keine Ahnung. Wissen Sie die Hausnummer?" Ich: "Nee." Die Frau: "Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen."
Ein anderer Slogan der Reportageschule lautet: "Wer hier das Handwerk des Reporters lernt, braucht keine Hausschuhe, sondern wetterfestes Schuhwerk." 13 junge Männer und Frauen hingen an meinen Lippen. Wanderschuhe trug niemand. Ich auch nicht. Ich kam auf teuren italienischen Lederschuhen daher, mit denen ich mich kürzlich für irgendetwas belohnt hatte. Auf handgenähten Sohlen machte ich mich auf, ihnen die Welt der Reportage nahe zu bringen. "Neugierde", sagte ich immer wieder, "ist das A und O." Ich machte ihnen klar, dass sie Lust auf Menschen haben müssen. Dass sie Einfühlungsvermögen, Fingerspitzengefühl und Hartnäckigkeit brauchen. Dass sie fragen, fragen, fragen sollen. Und zuhören natürlich. Ich vergesse das manchmal vor lauter Fragen.
Die Jungreporter waren alle aus dem Westen und zwischen Mitte 20 und Mitte 30. Sie sind aufgewachsen mit der Sesamstraße und "Der, die, das. Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm." Keine Ahnung, ob Fernsehen vielleicht doch dumm macht. Aber zu meiner Enttäuschung hielt sich die Neugierde bei einigen sehr in Grenzen.
Weil "Wieso, weshalb, warum?" im Osten nicht so sehr angesagt war und meine Neugierde, wie so vieles andere auch, nicht wirklich befriedigt wurde, ist Reporter schon ein guter Beruf für mich. Ich kann andere mit meinen Fragen bis auf die Unterhose ausziehen und bin danach immer etwas schlauer als zuvor. So wie neulich, als ich einen Artikel über einen DDR-Fotografen las, dessen Fotos aus den 70er-Jahren eigentlich einen Ehrenplatz bekommen müssten, so schonungslos und zugleich schön zeigen sie die sozialistische Realität. Stattdessen wohnt er nach wie vor in seiner Ladenwohnung im Prenzlauer Berg und verkauft hin und wieder durchs Fenster einen Abzug.
Der Artikel war bebildert mit einem hinreißenden Bild von Müllmännern, die er vor über 30 Jahren in Leipzig fotografiert hatte. Nie habe ich so sexy Werktätige gesehen wie diese drei schmutzigen Kerle mit ihren verwegen-selbstbewussten Blicken. Ich rief den Fotografen an, um mich zu erkundigen, wie viel ein Abzug kosten würde. Wir kamen ins Plaudern, und ich fragte ihn, ob er nach dem Artikel viele Anfragen bekommen habe. "Vier Bürger haben sich gemeldet", antwortete er. Früher ging mir das Wort Bürger gehörig auf den Keks. Als ich den Hörer aufgelegt hatte, war ich gerührt wie lange nicht.
Fragen zur Neugierde? kolumne@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!