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KolumneHigh ohne Habgier

Auf dem Land lebt es sich besser, auch wenn einmal die Dorfkirche zu schwanken beginnt.

Was man aus der Hauptstadt so alles hört. Alice Schwarzer hat sich für eine Werbekampagne der Bild zur Verfügung gestellt, um die Frauenquote der von der Bild abgebildeten Frauen zu erhöhen. Der angezogenen Frauen, meinte sie vermutlich. Eine Zeit-Plakatwand zeigt den rauchenden Helmut Schmidt, daneben eine Nixe im Badeanzug beim Kopfsprung. Der Schriftzug "mit Verstand und Gefühl" zieht sich so übers Plakat, dass der Verstand unterm Altkanzler und das Gefühl, klar, unter der Nixe zu sitzen kommt.

Bild: taz

Hilal Sezgin lebt als freie Autorin in Barnstedt. Zuletzt publizierte sie das Buch "Typisch Türkin? Portrait einer neuen Generation" (Herder).

Kurz gesagt: Es geht alles vor die Hunde. - Aber ohne mich! In meinem 801-Seelen-Dorf wird man mit feministisch-kapitalistischen Allianzen und Werbung fürs Offensivpatriarchat verschont. In unserem Dorf kommen wir nämlich nur auf zwei Plakate, von denen das eine fordert "Keine A 39!" und das zweite mitteilt "Jeden Samstag Bio-Hofladenverkauf 11-14 Uhr". Beide Plakate sind handgefertigt, und ich finde, damit kann man ganz gut leben.

Was wir nicht haben, sind des Weiteren: Werbeplakate, auf denen im Wohnzimmer eines gemütlichen Heims die Mutti ihren Lieben einen Auflauf der Marke Instant-Soundso serviert. Auf denen Abenteuer darin zu bestehen scheinen, dass man mit einem hochtourigen Wagen eine kurvenreiche Straße entlangfährt, oder auf denen spacige Computerwesen behaupten, dass Habgier high macht. Nicht einmal Plakatwerbung für Baumärkte haben wir, obwohl deren Gartenabteilungen eigentlich der einzige Ort sind, wo uns der Konsumismus regelmäßig einen Loch in den Geldbeutel reißt. Aber dafür müssen wir halt auch schon wieder 15 Kilometer fahren, um an die Blumen und Sträucher überhaupt ranzukommen. Denn zu kaufen gibt es bei uns auf dem Dorf außer Brötchen und dem erwähnten Biogemüse: nichts. Und das ist: großartig.

Erst wenn man "draußen" ist, merkt man, wie absurd man die Wochenenden der letzten Jahrzehnte in der Stadt totgeschlagen hat, beispielsweise mit Bummeln, also letztlich Schaufenstergucken. Sogar am Sonntag, wo es nichts zu kaufen gab, vergnügte man sich damit, Sachen anzugucken, die man ab Montag wieder kaufen konnte. Und selbst wenn man sie nicht kaufte, spielte man doch mit dem Gedanken, eine neue Retro-70er-Jahre-Lampe statt des alten 90er-Jahre-Teils übern Küchentisch zu hängen, man erfreute sich an der Form neuer Musik-Speicher-Chips und dem Anblick von Kleidern, in die man erst reinpassen würde, wenn man den Quotienten von Schreibtischarbeit zu körperlicher Bewegung entscheidend veränderte.

Was man natürlich ohnehin fest vor hat. Man kommt in der Stadt oft an dem einen oder anderen Fitness-Studio vorbei und sieht, aha, da haben sie wieder ein neues Sonderangebot. Vertragslaufzeit nur vier Monate, das heißt beim Einkalkulieren einer erfahrungsgemäßen Durchhaltezeit von sechs Wochen, dass man also nur zweieinhalb Monate bezahlen wird, ohne je wieder hinzugehen. Und wenn man es nach zwei Jahren endlich geschafft hat, den Vertrag fristgerecht zu kündigen, kommt man an einem anderen Plakat mit anderen jugendlich-schlanken Po-Beine-Bäuchen vorbei, und das Ganze fängt wieder von vorne an.

So einen Quatsch machen wir hier auf dem Dorf nicht. Gut, auch hier soll es eine Nordic-Walking-Gruppe geben. Sie walken ins Nachbardorf und schlagen sich dort den Bauch mit Sahnetorte voll. Hier stehen gertenschlanke und hummelrunde Frauen einträchtig nebeneinander im Stall und misten aus. Hier darf jeder schlecht und gegen jede Mode angezogen sein, denn spätestens beim Überklettern des nächsten Weidezauns geht die schicke neue Hose sowieso kaputt.

Da auf dem Land alles so wunderbar dünn besiedelt ist, braucht man sich sogar gar nicht anzuziehen. Obwohl, das kann manchmal ins Auge gehen. "Ich war ins Badehandtuch gewickelt, die Zahnbürste im Mund", erzählt Katharina, Besitzerin dreier jagdlustiger Katzen und eines großen Gartens, dessen Gedeihen sie jeden Morgen als erstes genüsslich inspiziert, "und trug in jeder Hand eine tote Maus, um damit zum Misthaufen zu gehen. Da kam mein Nachbar herüber. Ich konnte ihm das mit den Mäusen ja nicht mal erklären, wegen der Zahnbürste."

Bis zum Abend hatte Katharina sich wieder von dem Schreck erholt. Für ein hufkrankes Pony zäunte sie neben der alten Gutskapelle eine Weidefläche ein. Kinder liefen hin und her und machten sich nützlich, indem sie Weidezaunsspieße wie Speere durch die Luft schleuderten und ein Riesenkuddelmuddel mit der Weideschnur veranstalteten, während das Pony aus einem großen Autoreifen getrocknete Alpenkräuter fraß, die eigentlich für ein viel edleres Pferd bestimmt waren. Ich störte zusätzlich, indem ich mich auf Ex-Städter-Art erkundigte, wie das überhaupt funktioniere mit der Weide, der Schnur und dem Strom.

Eine Nachbarin kam zum Plaudern herüber. Wenige Minuten später saßen wir dann drüben auf ihrer großen alten Steintreppe, die zur Straße hin führt, und tranken Bier. Ein befreundetes Paar radelte vorbei, eigentlich wollten sie auf ihrem Acker nach dem Rechten sehen, aber dann bekamen auch sie eine Flasche in die Hand gedrückt. Plötzlich fing die Gutskapelle, standhaft seit dem 16. Jahrhundert, vor meinen Augen an zu schwanken und zu kreisen. Sofort schmierte die Nachbarin mir Brote und brachte Erdnüsse und Datteln, um meinen Alkoholpegel zu senken. Noch jemand kam angeradelt und blieb stehen, und das nächste Paar parkte sein Auto direkt auf der Straße. Noch mehr Bier (für mich nur Bionade), frisch geerntete Tomaten und Biochips

Die Uhr der Gutskapelle zeigte zehn nach zehn, als uns ein heftiger Regenguss auseinander- und jeden von der Dorfstraße wieder in sein Zuhause trieb. Und da fragte ich mich, warum es immer heißt, dass das mit dem Aussteigen angeblich nicht geht. Warum einem eingeredet wird, wenn man in der Stadt unglücklich sei, müsse es überall so sein. Warum ich mich jahrelang damit abgefunden habe, morgens nach dem Aufwachen als erstes von meinem Fenster auf die Wand eines anderen Hauses zu sehen, statt auf Wald und Wiese, und warum mich die Menge missmutiger Gesichter in großstädtischen Straßen nicht schon längst auf die Idee gebracht hat: Schafe als Nachbarn wären vielleicht auch ganz schön.

Ich will ja gar nicht behaupten, dass auf dem Land alles automatisch wunderbar ist oder war. Die Gedenkstätte KZ Neuengamme ist keine 80 Kilometer von unserem kleinen Idyll entfernt, dieselben Pappeln, Birken, Gräser, die unsere Weideflächen säumen, stehen neben den Fundamentresten, auf denen früher die Krankenbaracke, also das Menschenversuchslabor stand. Manche von Niedersachsens schönsten Dörfern haben heute ein Neonazi-Problem. Es gibt grimmige, geizige Bauern - aber eben auch solche, die einem ehrlich zeigen, wie glückliche Hühner leben. Nie möchte man danach wieder ein Ei verzehren Nein, es bleibt wahr, es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber ein besseres.

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