Kolumne: HELMUT HÖGE über die Moabiterin Ruth

"Siehe, meine Freundin, deine Augen sind wie Taubenaugen hinter dem Schleier / Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen" (Aus dem Hohelied)

Moabit war mal Zentrum der Studentenbewegung, insofern man dort die Verbindung zum Industrieproletariat suchte und zum Teil auch fand. Heute soll der Bezirk laut zitty in völlige Vergessenheit geraten sein. Deswegen wird eine Ausstellung - in Kreuzberg - mit Fotos von "Moabiter Kids" nun groß angekündigt. Es handelt sich um Straßenporträts: "Protzige Posen, schleimige Haare, Kettchen um den Hals, böse Blicke" vor migrantischen Hintergründen, meint zitty. Was für die postindustriellen Arbeiterviertel Kreuzberg, Neukölln, Wedding und Märkisches Viertel der Rap-Song ist, soll nun in Moabit das Rapper-Bild bringen.

Das Wort Moabit kommt von den Moabitern, einst ein Königreich nahe Israel in der Nähe des Toten Meeres. Beide Reiche führten gerne Krieg gegeneinander, deswegen wurden anschließend immer - um des ewigen Friedens willen - die schönsten Frauen ausgetauscht. Eine, die Moabiterin Ruth, ging in die Geschichte ein - genauer gesagt: in die Bibel -, als ein eigenes "Buch", in dem sie als Stammmutter Davids figuriert. Aus der Bibel wurde jedoch mit der Zeit ein Buchladen und aus ihrer Lektüre Lesewut.

Dank dem Internet wissen wir nun, dass es im schon fast vergessenen Stadtteil Moabit, idyllisch zwischen Schöneberg und Wedding gelegen, nicht nur von jungen Gangsta-Rap-Imitatoren vor magisch-migrantischem Hintergrund, sondern auch von reichlich authentischen Ruths nur so wimmelt. Einige seien genannt: Die Gesichtsgymnastikerin Ruth (Nuriya Macia mit Nachnamen), die in Moabit eines der seltenen "Cantienica-Studios" betreibt; ihres heißt "Scherazade". Die Moabiter Rentnerin "Ruth W.", die laut Tagesspiegel "nicht glaubt, dass Heizen Luxus sei. Sie ist krank und die drei Kohlen, die sie hat, sind viel zu weit weg - im Keller." Da hilft ihr jedoch der letzte Kohlenträger, der usw. usw.

Dann die Schriftstellerin Ruth (Wemme) aus dem Moabiter Knast, wo sie als Rumänisch-Dolmetscherin tätig war. Ferner Ruth (Abraham), die 1942 als jüdische Zwangsarbeiterin zusammen mit ihrem Mann und ihrer 1943 geborenen Tochter Reha von der Moabiterin Maria Nickel gerettet wurde, indem sie sie versteckte. Reha schrieb darüber ein Buch: "Ruth und Maria. Eine Freundschaft auf Leben und Tod".

Eine weitere Ruth (Greuner) schrieb ein Buch über "Das Gewissen von Moabit" - gemeint ist der bereits 1928 gestorbene Gerichtsreporter Paul Schlesinger. Ruth (Federspiel) erforschte die Modalitäten, mit denen das reichsweit zuständige Finanzamt Moabit die aus politischen Gründen zur Emigration gezwungenen Antifaschisten ein letztes Mal steuerlich "erfasste". Eine Ruth (Gill) behauptet auf ihrer Verschwörungen gewidmeten Website, dass bestimmte Agenten, die sie namentlich kennt, um 1970 herum "Bomben in die Moabiter Fabriketage der Kommune 1 schmuggelten".

In der berühmten Kantine des Moabiter Gerichts arbeitete lange Zeit eine Ruth (Schlesinger) als Kellnerin, die aus irgendeinem Grund besonders beliebt bei türkischen und kurdischen Angeklagten war, seltsamerweise aber auch bei den schwäbischen und rheinländischen Staatsanwälten. Und im gegenüberliegenden Justizpuff "Edelweiß" arbeitete mal eine Moabiter Rothaarige namens Ruth (Salm-Schwader) hinter der Theke, deren Lieblingsausspruch "Is doch normal, eh" lautete. Abschließend sei noch das nicht weit vom Bordell entfernte "Beerdigungsinstitut" erwähnt, das von einer Ruth (Kleinow) geleitet wird.

Bei all dieser Namensmagie dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass sich gleich vier Geschichtsvereine in Moabit der "Ruths-Forschung" widmen.

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