Kolumne: Wie ein Schwergewichtsboxer gegen ein siebenjähriges behindertes Kind
Sarrazin hält Hartz-IV-Empfänger für zu dick.
Der folgende Vergleich hinkt gewaltig, ist aber auch sehr anschaulich. Vor dem Einmarsch im Irak 2003 urteilte ein amerikanischer Journalist, das Kräfteverhältnis zwischen USA und Irak sei ungefähr so wie das eines Schwergewichtsboxers gegenüber einem siebenjährigen behinderten Kind. Der Boxer-Kind-Vergleich passt auch bei der folgenden Geschichte.
Als Sarrazin am Mittwoch abend die RBB-Sendung "klipp und klar" besuchte, muss ihm klar gewesen sein, was auf ihn zukommen würde. Seit zwei Wochen bezieht der Sparsenator Prügel, weil er Arbeitslosengeld-II-Empfängern Speisevorschläge gemacht hat. Centgenau war darin aufgelistet, wieviel ein nahrhaftes Menü kostet: Für einen Ein-Personen-Haushalt sieht der Chefkoch beispielsweise für ein Mittagessen eine Bratwurst vor (38 Cent), dazu 150 Gramm Sauerkraut (12 Cent) und Kartoffelbrei (25 Cent) plus Gewürze und Öl für 20 Cent. Das ergibt je nach Menü einen Tagessatz zwischen 3,75 und 3,98 Euro. Die Botschaft: Von den 128 Euro, die ein Hartz-IV-Empfänger monatlich für Essen bekommt, lassen sich nahrhafte und leckere Mahlzeiten zubereiten.
Der Sturm authentischer und geheuchelter Entrüstung war immens. Beim RBB verteidigte sich Sarrazin. Mit seiner Frau habe er das Essen selbst ausprobiert. Von den 128 Euro könne man "in der Tat ausgewogen und auskömmlich essen". Das alles könnte man noch mit etwas Langmut als typisch Sarrazinsche Provokation abtun. Aber was der Senator dann sagte, war zuviel. Der Kritik, die Zahl der Kalorien auf seinem Speiseplan reiche für eine vollwertige Mahlzeit nicht aus, hielt er entgegen: "Wenn man sich das anschaut, ist das kleinste Problem von Hartz-IV-Empfängern das Untergewicht."
Vordergründig besagen diese Menüvorschläge: Seht her, mit Hartz IV lässt sich gesund leben. Sie suggerieren jedoch etwas anderes: Wer mit dem Geld nicht zurande kommt, dem mangelt es an Selbstdisziplin. Dem ist daher mit Verständnis für ihre bedrängte Lage nicht geholfen und erst recht nicht mit mehr Geld. Genau diese Verquickung zweier Botschaften ist perfide. Zwei Wochen medialer Dauerbeschuss hätten Sarrazin eigentlich genügen müssen, dies zu verstehen.
Stattdessen setzte er mit seinem Untergewichts-Gag noch eins drauf: Wer Hartz IV bezieht, ist zu dick. Damit bestärkt er zum einen sein Klischeebild vom disziplinlosen Stützeempfänger, der nicht einmal den eigenen Körper unter Kontrolle hat. Obendrein - und hier überschreitet Sarrazin die zweite Grenze - verwischt er die Unterschiede zwischen den hunderttausenden Hartz-IV-Empfängern in Berlin. Zwischen den Alleinerziehenden und den Facharbeitern über 50. Zwischen den in Armut aufwachsenden Kindern und den wenigen Menschen, die tatsächlich unrechtmäßig Geld bekommen. In Sarrazins Worten werden sie zu einer homogenen, anonymen Masse.
Bislang nutzte Sarrazin seine Provokationen, um Änderungen durchzusetzen. Zum Beispiel orakelte er 2003, Berlin komme mit der Hälfte seiner Opern und Theater aus. Die Provokation saß, die aufgescheuchten Kulturschaffenden bemühten sich um Einsparvorschläge. Doch nun provoziert der Senator Menschen, die nicht weiter sparen können. Und es liegt nicht in Sarrazins Hand, an der Höhe von Hartz IV zu drehen.
Der Schwergewichtsboxer Sarrazin hat ein siebenjähriges behindertes Kind herausgefordert. Würde dieser Vergleich mit dem Irak-Krieg nicht so gewaltig hinken, ließe sich sagen: Wir haben ja gesehen, was sich Schwergewichtsboxer damit einbrocken.
Matthias Lohre
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