Kolumne Zwischen Menschen: Alle mit dabei
Wir hängen im Zusammenleben aneinander, ob wir wollen oder nicht. Die Probleme der anderen sind auch unsere Probleme. Sogar in der S-Bahn.
S -Bahn-Station Reeperbahn. Ich renne zum Zug, der gerade einfährt, ein Drängeln und Drücken entsteht. Die S-Bahnen fahren an diesem Morgen unregelmäßig. Alle wollen die nächstbeste Bahn zum Hauptbahnhof erwischen, um von dort weiterzukommen. Müde Menschen, auf dem Weg zur Arbeit, die noch nicht offen sind an diesem Morgen für die Welt, kämpfen um Platz: jeder für sich. Nichts scheint jetzt wichtiger, als es noch in diese vollgestopfte Bahn zu schaffen.
Und dann knallt wie ein unverhoffter Blitz ein böser Zufall in diese Wirklichkeit. Ein Moment, weswegen man sich später fragt, warum man bloß ausgerechnet diese Bahn genommen hat. Beim Einsteigen drängeln sich zwei junge Männer vor. Sie stoßen aggressiv, sie haben beide rot unterlaufene Augen. „Nicht drücken“, ruft eine Frau empört.
Die Männer rempeln weiter. Und dann wird klar, warum: Sie haben Angst. Ein anderer Mann jagt auf dem Bahnsteig hinter ihnen her. Auch er will in den Wagen, doch der ist nun voll. Der Mann steht draußen auf dem Gleis uns anderen im Abteil gegenüber. Er ist voller Wut, er brüllt. Unkontrolliert schlägt er auf den Mann mit den roten Augen ein, der noch vorne am Eingang steht. Seine Faust trifft auch die Menge.
Wir ducken uns, weichen zurück. Aber wir können nicht mehr einzeln handeln. Wir stecken zusammen fest. Wie ein großer Körper schwanken wir hin und her. Wir haben Angst. Dann endlich gehen die Türen zu.
Der Mann ist nun draußen ausgeschlossen. Wir stöhnen erleichtert auf. Er hämmert nun von außen gegen die Tür. Der Mann innen hämmert zurück. Nur die Glasscheibe schützt uns jetzt.
Und dann ertönt plötzlich ein alltägliches, ein schreckliches Geräusch. Es zischt: Die Türen gehen wieder auf. Wir schreien. Wir stehen wie vor einem Löwen-Käfig, dessen Gitter sich gerade geöffnet hat. Der Mann ist wieder direkt vor uns. Er will wieder zuschlagen, doch dann kommt jemand auf dem Gleis dazu und hält ihn fest. Endlich schließen die Türen wieder. Die Bahn fährt los.
Wir atmen aus. Und jetzt, nach der Angst, kommt die Wut. Im Sicheren schauen nun alle böse auf die Männer, die uns in ihre Gefahr gezogen haben. „Worum ging es eigentlich“, fragt eine Frau. „Na, Drogen“, sagt eine andere vorwurfsvoll.
Der Mann an der Tür mit den roten Augen blickt nach unten, als wollte er nicht, dass wir seine Augen sehen, als würde er sich schämen.
„Geht es dir gut“, ruft eine kleine Frau neben mir. Ich registriere erst jetzt, dass der Mann eine Brille trägt, dass der Schlag ihm das Gestell ins Gesicht gedrückt hat, dass es ihm weh getan haben muss.
Die Schuldigen sind Teil unserer Situation
Der Mann antwortet nicht. Die kleine Frau fragt wieder: „Wie geht es dir?“ Ich schaue sie an. Sie würde nicht auffallen in der Menge, aber die Frage macht sie zu einer Art Führungspersönlichkeit. Sie scheint die Situation wie aus einer weiteren Sicht zu betrachten, als würde sie wissen, dass es manchmal nicht ums Rechthaben geht, sondern darum, dass es allen gut geht – auch denen, die Mist gebaut haben. Für einen kurzen Moment wirkt die Situation wie ein zusammengepresstes Beispiel für etwas Größeres.
Die Nähe hat eine Tatsache herausgequetscht: Wir hängen im Zusammenleben aneinander, ob wir wollen oder nicht. Die Probleme der anderen sind auch unsere Probleme. Es funktioniert nicht, die Schuldigen anzuprangern und sie auszustoßen. Sie sind Teil unserer Situation.
Der Mann mit den roten Augen nickt jetzt: „Ja, ist okay.“ Und vielleicht liegt es an der Frage, die ihn als Mensch gemeint hat, oder daran, dass die Gefahr vorbei ist. Ein paar im Wagen fangen an zu witzeln, erleichtert darüber, dem Zufall noch einmal unverletzt davongekommen zu sein. Die angespannte Energie, die uns so verhärtet hat, weicht auf, wir lockern uns nun auch als Menge. Und auf einmal, wer weiß schon warum, gibt es für jeden einzelnen ein ganz kleines Stückchen mehr Platz.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Nach der Sicherheitskonferenz
Expressverbindung von München nach Paris