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Kolumne ZeitschleifeDeutschland. Ein Winterchaos

Kolumne
von Josef Winkler

Die Auflösung aller Werte: Erst war es nicht warm, und dann kam auch noch Kälte dazu!

J etzt ist es also wieder passiert. Und mit welcher Heimtücke! Man lebt so in den Tag hinein, verrichtet Tätigkeiten. Man ahnt nichts Böses. Es ist Winter. Man ahnt noch immer nichts Böses. Der Kalender sagt "Dezember", gar: "Januar". Man ahnt weiterhin nichts Böses. Und dann: fällt hinterrücks Schnee!

Bild: taz

Josef Winkler (35) lebt und arbeitet, was sein Nervenkostüm und Zeitbudget nicht unerheblich in Anspruch nimmt, in München und Palling. Hobbies: Zeichnen, Tiere, Musik, Nichtschwimmen.

Man fragt sich: Kann man denn keinen Winter mal Ruhe haben? Und wie zum Hohn wirds auch noch kalt! Sogleich muss die Redaktion des ARD-"Brennpunkts", die gemeinhin nur aktiv wird, wenn es einen Tsunami gegeben hat oder ein Papst stirbt, aus ihrer so wohlverdienten Ganzjahresstarre geschüttelt werden, und schon am Abend bringt ein besorgt blickender Moderator der TV-Nation so schonend wie möglich und so journalistisch beinhart wie nötig bei, was viele vielleicht noch gar nicht im vollen Ausmaß begriffen haben: Es sei in der Tat kalt in Deutschland. Mehr noch: Es sei Schnee gefallen! Mitten in Deutschland.

Und hier: Unser Reporter, live vor Ort, exklusiv frierend, an einem Autobahnzubringer bei Ulm, wo "gar nichts mehr" geht - wen wunderts: Da liegt ja Schnee auf der Straße! Die Kamera weidet sich minutenlang an dem Schnee auf der Straße und den roten Rücklichtern der stehenden Autos. Es sei wirklich sehr kalt, informiert der Reporter, und es gehe tatsächlich rein gar nichts mehr. Und die TV-Nation nippt wohlig erregt am Glühwein und ruft in die Küche: "Hast du gehört, Schatz? In Ulm ist es so kalt, da geht rein gar nichts mehr!"

Früher war das alles viel langweiliger. Wenn da winters Schnee gefallen war in Deutschland, dann war halt Schnee gefallen, und in den Nachrichten hörte man dann, als fünfte oder sechste Meldung, dass - wie winters nicht viel anders zu erwarten - Schnee gefallen war und hie und da sich eine Straße verstopft hatte. Und kein Kachelmann, der einem erklärte, dass es just deswegen so kalt war, weil die Wärme "ins Weltall abgehauen" sei.

Heute gibt es Schneechaos. Es wäre ja interessant, wann das Wort "Schneechaos" erstmals in einem Medienbericht aufgetaucht ist. Und wer hat es kreiert? Was muss das für ein monumentales Wetterereignis gewesen sein, was für ein durch unheiligen Schneefall herbeigeführter "Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung" (so die Wortdefinition von "Chaos" laut Wikipedia), in dem der Wortschöpfer seine Umwelt da eines Wintermorgens vorfand, zurückgeworfen auf ihre "ungeformte Urmasse", preisgegeben der "Auflösung aller Werte" (wie der Altgrieche das Wort versteht)? Muss schlimm gewesen sein. Und wird seither immer schlimmer.

Schuld ist, natürlich: der Klimawandel. Seit Klimawandel ist, warten die meisten ungeduldig kibbelnd ja nur noch darauf, wann sie nun endlich Ananas auf ihrem Balkon züchten können; wer rechnet da noch mit Wintereinbrüchen? Eben. Und wenn Sie schon mal mit Flip-Flops, T-Shirt und Sommerreifen auf 0,7 cm Neuschnee nebst "Blitzeis" (auch ein relativ junges meteorologisches Phänomen) in den Graben gerutscht sind, dann wissen Sie, in welcher Windeseile sich einem in so einer Situation alle Werte auflösen. Da ist ein Schneechaos nachgerade programmiert.

Das etymologische Wörterbuch verrät mir gerade, dass das Wort "Gas" ein Lehnwort von "Chaos" ist. Und wenn man darüber kurz meditiert und an den Putin denkt, dann drängen sich einem für die Zukunft doch weit dramatischere Winterchaosszenarien auf als die Tatsache, dass die S-Bahn heute schon wieder nicht kam (die Münchener S-Bahn ist einst mit viel Weitblick konzipiert worden für den reibungslosen Betrieb in subtropischem Ananasklima; sobald die Temperaturen unter 2°C und/oder Schneeflocken fallen, stellt sich Betriebsstörung ein).

Aber so lange stürzen wir Naturburschen uns - jetzt mit Helm! - von den Kunstschneepisten, obwohls schlecht ist für Umwelt und Gelenke, und rennen wie die Lemminge auf die Seen, um wie besinnungslos durch die viel zu dünnen Eisdecken zu krachen. Hauptsache, es rührt sich was. Daheim resp. im Krankenhaus wartet ja die warme Stube - sofern sie nicht vor lauter Schneechaos unerreichbar bleibt.

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