Kolumne Trends und Demut: Die coole Tante Pop
Die Briten achten Menschen, die ihrer Band treu bleiben.
V on meinem Bürofenster aus schaue ich auf ein klobiges, legendäres Lehrstück in Popkultur, die Brixton Academy. Woche für Woche pilgern hier ganz unterschiedliche Fans die Straße entlang, um sich für einen Moment in einem Revival des Revivals unkaputtbarer Bands zu verlieren und ewige Hits mitzugrölen, von den Pixies, Blur, Massive Attack.
Jeder von ihnen glaubt, er stecke in seiner ganz eigenen, individuellen Maskerade, dabei sehen am Ende doch wieder nur alle aus wie eine Kopie des charismatisch verlebten Sängers. Die Iron-Maiden-Fans kramen ihre speckigen Lieblingskutten hervor und färben sich die ergrauten Matten. Die Morrisey-Jünger richten ihre dünner werdenden Tollen auf und zwängen sich in ihre Kopf-bis-Fuß-Denim-Tracht. Ein gut sortierter Supermarket of style direkt vor meinem Fenster!
In Deutschland belächelt man diese Fans, die einfach nicht loslassen können. Definitiv hängen geblieben. In England dagegen gibt es Respekt, diese Leute seien sich immerhin treu geblieben! Briten sind gern treu, wenn es um Tradition geht. Sie bleiben bei ihrem Stil, ob Fred-Perry-Poloshirt oder Tweed-Jackett, sie lieben ihre Band und ihren Fußballverein. Sie schlüpfen nach der Arbeit in andere Identitäten, wollen aussehen wie Rod Stewart, zwängen sich in Offiziersuniformen aus dem Zweiten Weltkrieg und spielen Szenarien minutiös nach, als seien sie damals selbst dabei gewesen. Reenactement wird dieses seltsam verklärte Hobby genannt, die Sehnsucht der ewigen Wiederholung und Wiederbelebung.
Wie hervorragend sich diese Wiederholungssehnsucht vor allem in der britischen Popindustrie vermarkten lässt, sehe ich Woche für Woche vor meinem Fenster: In der Brixton Academy findet das zehnte Comeback statt, und die Fans kommen in ihren zu eng gewordenen Sex-Pistols-Kostümen und zahlen für anderthalb Stunden eine Menge Geld.
Popkultur ist die coole Tante, die man nie so recht durchschaut. Jede Saison gelingt es ihr, das Neuste vom Neuen aus der Subkultur ans Licht zu zerren, gestern Grime, heute UK Funky, und die Briten gleichzeitig dazu zu bringen, sie wie ein nationales Kulturerbe zu vergöttern. Schließlich ist Pop tatsächlich eines der wenigen Dinge, das Großbritannien perfekt beherrscht. Als Band zu altern ist wahrscheinlich nirgendwo schöner als hier, wo Anhänger ihre Helden mental und finanziell bis in die Rente auf den Händen tragen.
Als bekannt wurde, dass es ein neues Beatles-Album geben werde, befand sich das Land wochenlang am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein bisschen erinnert diese Unterwürfigkeit an das Verhältnis zur Queen. Auch sie ist für die Briten ein kostspieliges Hobby, das sie Jahr für Jahr finanzieren. Dafür bekommen sie die legendäre zugeknöpfte Etikettenexzentrik, von der ihre Königin seit Regierungsantritt nicht einen Millimeter abgewichen ist. Das nennt man Tradition. Zufriedenes Grölen der immer gleichen Blur-Hits vor meinem Bürofenster aber eben auch.
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