Kolumne Theorie und Technik: Den Weihnachtsmann gibt es doch!
Aufklärung? Wir teilen mit den Fetischisten den Hang zur Verleugnung der Realität - und unseren naiven Glauben übertragen wir auf die Kinder.
D ies ist die Weihnachts-Theoriekolumne. Etwas früh vielleicht. Aber erstens erscheint die nächste Theoriekolumne erst im neuen Jahr. Und zweitens ist die ganze Sache doch bereits längst losgegangen: vom Adventkranz über den Weihnachtsmann bis zum geschmückten Baum. Das ist die Zeit, wo die gängige Beteuerung vieler Erwachsener, sie würden ja nicht glauben, sie würden das alles nur für die Kinder veranstalten, eine empfindliche Verschärfung erfährt.
1964 hat der französische Psychoanalytiker Octave Mannoni einen Text unter dem Titel "Ich weiß zwar , dennoch aber" veröffentlicht. Mannoni zeigt darin, dass der Glaube - nicht nur der religiöse Glaube sensu stricto, sondern alle Formen kollektiver Mystifizierung - ein komplexes Gebilde ist, das sich aus mehreren Schichten zusammensetzt. Er erklärt dies anhand eines Maskenkults der Hopi-Indianer, der vorsieht, dass einmal jährlich maskierte "Geister", die Katcinas, die Kinder besuchen. Das ist das erste Stadium, jenes eines naiven, direkten Glaubens, der den Kindern - wie jener an den Weihnachtsmann - durch ihre engsten Vertrauenspersonen nahe gebracht und garantiert wird.
Die Auflösung des naiven Glaubens, die Entdeckung der Realität hinter der Maske ist ein Schock. Aber diese Traumatisierung ist ein unumgänglicher Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Die Hopis haben dafür eigens das Ritual der Initiation, bei der die Väter und Onkel die Masken vor den Initiierten abnehmen. Für diese bedeutet die Enthüllung der Katcinas, der Anblick der vertrauten Verwandten hinter den Masken eine schockierende Ernüchterung. Aber diese Zeremonie der Entmystifizierung ist - und das ist Mannonis springender Punkt - zugleich die Grundlegung eines neuen, veränderten Glaubens an die Katcinas, der nunmehr gerade auf der Realität basiert.
Auch wenn wir über keine solchen Rituale der Ent-Täuschung, der Aufklärung verfügen (und die Dauer des naiven Glaubens sich zusehends verringert), so funktioniert unsere Entmystifizierung dennoch nach demselben Modus. Denn auch bei uns führt die Aufklärung nicht zu einer einfachen Entzauberung der Welt. Die Ent-Täuschung ist nicht gleichbedeutend mit der Ankunft in einer entmystifizierten Welt. Denn gerade weil sie ein Schock ist, löst sie auch eine Abwehr aus. Die Aufklärung wird als "Dementi der Realität" (Freud) gegen den Glauben erlebt. Ein Dementi, das durch ein spezifisches psychisches Prozedere gleichzeitig akzeptiert und abgewehrt wird. Mannoni bringt diese Form der Abwehr, der Verleugnung der Realität bei deren gleichzeitiger Anerkennung, auf die Formel: "Ich weiß zwar , dennoch aber." Ich weiß zwar, dass es die Katchinas nicht gibt, sagt der erwachsene Hopi, dennoch aber sind sie da, wenn die Masken auftreten. Ich weiß zwar, dass es das Christkind nicht gibt, dennoch aber ist sein Zauber zu Weihnachten da. Der Glaube wird durch die Aufklärung nicht aufgehoben, das Wissen um die Wahrheit löst die Illusion nicht auf - er erfährt vielmehr eine Verwandlung von einem naiven in einen erwachsenen Glauben. Wir sind also nicht so sehr Aufgeklärte wie aufgeklärt "Gläubige", die den Balanceakt vollbringen, unseren Glauben gleichzeitig aufzugeben und beizubehalten, die Verzauberung in der Entzauberung zu retten.
Freuds Fetischist löst dieses Dilemma durch seinen Fetisch, der es ihm ermöglicht, den Glauben an den weiblichen Phallus gegen das "Dementi der Realität" aufrechtzuerhalten. Er sollte diesen Penis, an den er als Kind geglaubt hat, normalerweise aufgeben, aber gerade der Fetisch ist dazu bestimmt, diesen Glauben - selbst gegen die eigene Wahrnehmung - vor dem Untergang zu behüten: Er weiß zwar, dass die Frau keinen Penis hat (also in dieser psychoanalytischen Lesart kastriert ist), dennoch aber hat er sich diesen im Ersatzobjekt, im Fetisch "bewahrt". Nun sind wir nicht alle Fetischisten. Aber wir teilen den Hang zur Verleugnung der Realität mit diesem. Der Unterschied liegt darin, dass der Mystifizierte seinen Glauben nicht auf ein Ding, sondern auf eine andere Person überträgt - auf seine Kinder. Diese werden zu den Trägern des Glaubens der Eltern. Insofern spielen die Kinder eine eminente Rolle für das Funktionieren des Glaubens. Das steckt also dahinter, wenn wir das Weihnachtsschauspiel für unsere Kinder aufführen: Sie sollen für uns die Illusion, den Glauben an die verzauberte Welt aufrechterhalten. Was uns an den "leuchtenden Kinderaugen" zu Tränen rührt, ist - unser eigener Glaube in neuer Gestalt. Durch sie können wir aufgeklärt Gläubigen weiterglauben.
Wir inszenieren Weihnachten nicht für unsere Kinder, vielmehr glauben diese für uns.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!