Kolumne Speckgürtel: Bissfest am Gartenzaun

Demnächst wird die Pubertistin vielleicht ihre eigene Kirche gründen.

Es dauert immer ein bisschen länger, bis die Postfrau mit ihrem Kastenwagen am Ende ihrer Tour unsere verkehrsberuhigte Sackgasse erreicht. Und deshalb behielt die Pubertistin an diesem Samstagmorgen den Briefkasten immer schön im Auge - nicht dass die hochverehrte Zustellerin niemanden antrifft, dem sie das Buchpaket aushändigen könnte. Bei der heiß ersehnten vorbestellten Amazon-Sendung handelte es sich um Stephenie Meyers "Biss zum Ende der Nacht".

Der Tagespresse hatte ich entnommen, dass es sich bei dem Vampir-Märchen für junge Leserinnen um "antifeministisches Gift" handelt. Die Geschichte ist rasch erzählt: Heißer Vampir-Boy liebt süßes Menschen-Girl. Die beiden können aber nicht zusammen kommen - was man getrost doppeldeutig verstehen darf. Sie will gebissen werden, er will nicht beißen. Olala!

Nachdem die Postbotin die literarische Droge abgeliefert hattem, sah und hörte ich 48 Stunden lang nichts von der Pubertistin. Sie aß nicht, trank nicht, sprach nicht. Sie las. Zwei Tage Ruhe zum Preis von 24,90 Euro - das war jeden Cent wert.

Als sie dann doch mal wieder am Abendbrottisch auftauchte, stellte ich sie scharf zur Rede. "Du weiß ja sicher, dass das ein ganz großer, rückwärtsgewandter Mormonenquatsch ist, den du da gerade gelesen hast." Sie schaute mich somnambul an. "Hallo, junge Dame, wie wärs mit einer Antwort?" Ein leichter Schreck durchzuckte sie, offenbar war ich zu laut geworden für eine hoffnungsvolle Vampirsanwärterin. Dann sagte sie irre lächelnd: "Der Typ ist so geil!" Sie meinte damit den bildschönen Vampir Edward, den Beißer.

Ich beschloss, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wahrscheinlich würde ich mich noch wundern, wenn meine reizende Tochter demnächst in unserem Speckgürtel-Ort eine Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gründet, wenn sie vorehelichen Geschlechtsverkehr ablehnt und vorsorglich das Haus verlässt, wenn homosexuelle Freundinnen und Freunde ihren Besuch ankündigen.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie irritiert meine Eltern geguckt haben, als ich ihnen seinerzeit meine kleine Leidenschaft präsentierte. Bei dem Angeschmachteten handelte es sich um einen Briten mit einem schlimmen Zahnproblem. Sehr dünn, sehr androgyn, sehr traurig schaute er vom Poster in mein Jugendzimmer. Seine verschiedenfarbigen Augen waren kajalumrandet, es gab nicht viel zu lachen in den Achtzigern, wir standen schließlich unmittelbar vor dem Neutronenbombentod. Und wenn David Bowie doch mal sein seltenes kariöses Lächeln zeigte, wusste ich: Er sendet da eine Botschaft. Direkt nach Ostberlin. An mich.

Es gibt so was. Es gibt echtes Fantum. Für hühnerbrüstige Männer, für ungewaschene Poeten, für blondlockige Vampire. Scheiß auf die Peinlichkeit! Wenn es der Pubertistin gefällt, diesen unseriösen, sexuell aufgeladenen Quatsch zu lesen, soll sie das tun. Der Zug ist doch längst abgefahren: als wir ihr (nicht nur eine) Barbie und das Tamagotchi gekauft haben, als wir nicht verhindert haben, dass ihre Großeltern ihr Rolf-Zuckowski-Kassetten schenken. Als wir das erste Happy Meal bei McDreck ausgegeben haben. Dennoch macht sie den Eindruck eines zu allen Hoffnungen Anlass gebenden Mitglieds der Menschengemeinschaft.

Die Barbie haben wir beim letzten Umzug verschenkt, das Tamagotchi ist zwei Wochen nach Erwerb verreckt, Kassetten sind nicht mehr im Gebrauch, und David Bowie sieht heute aus wie eine Malibu-Rentnerin, die im Branchenbuch den falschen Chirurgen rausgesucht hat.

Auch der smarte Edward, den ich sehr zum Unmut der Pubertistin gern "Eddie" nenne, wird den Gesetzen alles Irdischen folgen. Irgendwann lässt er sich vielleicht so eklige Hollywood-Bäckchen-Implantate einsetzen oder verliert hormonbedingt seine goldenen Locken. Und die Pubertistin wohnt dann womöglich am Ende einer verkehrsberuhigten Sackgasse. Ich hoffe, dass sie sich dereinst, nach der ersten Schrecksekunde, daran erinnert, wie schön sie es mal miteinander hatten, der Beißer und sie. David und ich denken auch gern an früher zurück. Manchmal sehen wir uns, er blinzelt mir dann mit seinem blauen Auge aus dem Fernseher zu, und ich weiß: Er ist König und ich bin Königin … für einen Tag.

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1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

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