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Kolumne SchlaglochMoralphilosophie für Tiere

Gegenüber Tieren verletzen wir Menschen ständig unsere Sorgfaltspflicht - aufs Gröbste.

Man hat mir von redaktioneller Seite nahe gelegt, dieses Mal nicht schon wieder über Tiere zu schreiben. Nicht, weil man bei der taz kein Verständnis für Tiere habe; wo, wenn nicht hier? Doch ein Autor beweist die Kraft seiner Gedanken nun einmal, indem er sie in der weiten Welt der Kultur und Politik schweifen lässt. Damit ist die Welt der Menschen gemeint.

Bild: taz

Hilal Sezgin Hilal Sezgin lebt als Publizistin und Schafsnachbarin in Barnstedt Zuletzt publizierte sie das Buch "Typisch Türkin? Portrait einer neuen Generation" (Herder).

Na gut. Aber dann kamen die Waldbrände in Griechenland. Über sechzig Menschen sind dabei bisher ums Leben gekommen, auf eine der qualvollsten Weisen, wie man überhaupt ums Leben kommen kann. Auch die türkische Regierung schickte Hilfe über die Ägäis; Erinnerungen an 1999 wurden wach, als die Griechen in ergreifender Anzahl Schlange standen, um Blut zu spenden für Opfer des Erdbebens bei und in Istanbul.

Auch über 60.000 Schafe und Ziegen kamen bei diesen Waldbränden um. Wer ferngesehen hat, hat es vielleicht noch vor Augen: Auf der verkohlten Landschaft lagen die grotesk nackten, beinahe schimmernden Kadaver; den Körper zu Posen verdreht, die an Bilder von Salvador Dalí oder Science-Fiction-Wesen denken ließen. Am wenigsten versehrt die Hörner, an denen man erkannte, um welche Spezies es sich ungefähr handelte.

Doch lassen wir alle Sentimentalität beiseite und holen die Philosophie zu Hilfe: Was sagt uns die Moral dazu? Die klassische Moralphilosophie hat sich bekanntlich nur in Ausnahmefällen für die Tiere interessiert; meist fragt sie nach dem Verhältnis menschlicher Erwachsener, die in demselben Staat zusammenleben. Seit wenigen Jahrzehnten erst versuchen Philosophen und Philosophinnen, den Mainstream auch über die Grenzen des eigenen Landes, Alters, Geschlechts und der eigenen Spezies zu lenken.

Selbst unter Menschen sind die Pflichten zur aktiven Hilfeleistung in der kantianischen Ethik relativ begrenzt, kommen allerdings gerade bei Lebensgefahr zum Tragen. Dabei ist Lebensgefahr eher bürgerlich-besitzdenkerisch definiert: Man ist nicht verpflichtet, dem unter der Brücke schlafenden Bettler Decke oder Nahrung zu schenken, aber bevor er von einer Brücke runterstürzt, hält man ihn immerhin fest.

Ausgerechnet diese Pflicht zur Lebensrettung aber kann in Bezug auf das Tier nicht pauschal behauptet werden. Es liegt auf der Hand, dass das Schaf als solches keinen vergleichbaren Anspruch auf einen Rettungshelikopter hat wie ein Mensch; so wenig, wie wir verpflichtet sind, in einen afrikanischen Naturpark einzumarschieren, weil dortige Raubkatzen Antilopen reißen. Was die griechischen Schafe und überhaupt unsere Nutztiere angeht, wird man statt einer allgemeinen Pflicht zur Lebensrettung zunächst an eine konkrete Sorgfaltspflicht denken. Das hieße also, dass wir, eben weil wir diese Tiere als Nutztiere halten, Verantwortung für einen gewissen Standard an der Sicherheit, Gesundheitszuträglichkeit und sogar am Komfort ihrer Umgebung übernommen haben.

Es ist offensichtlich: Diese Sorgfaltspflicht verletzen wir alle, als Erzeuger oder als Konsumenten, jeden Tag. Wir quälen und töten jährlich Millionen Labortiere, hunderttausende lebendiger Weihnachtsgeschenke, Millionen von Nutztieren: geschenkt. Diese Sorgfaltspflicht wurde aber an den 60.000 Opfern der Waldbrände wohl nicht in besonderem Ausmaß vernachlässigt, außer natürlich durch die Brandstifter selbst, denen wohl ohnehin alles moralisch gleichgültig war.

Es gibt noch eine zweite Hinsicht, in der das Recht des Tiers auf aktive Zuwendung unseren moralischen Horizont berührt. Wir können uns dieses Phänomen am besten räumlich verdeutlichen, am Bild mehrere konzentrischer Kreise, in deren Mittelpunkt der einzelne moralisch Handelnde steht, per definitionem ein Mensch. Zum innersten gehören, zumindest auf dem Papier, alle andere Menschen. In welche Nähe wir aber das jeweilige Tier lassen, scheint beliebig. Was können, wollen, sollen wir - über die Vermeidung unnötiger Qualen hinaus - für nicht-menschliche Tiere tun?

Anders als die Tiere leben wir Menschen nach dem Prinzip fortschreitender Kontingenzvermeidung. Was wir dem Zufall entreißen können, entreißen wir ihm; unsere Medizin kämpft gegen den Tod und unser Bildungssystem gegen Fehler und Versäumnis. Unsere Produktion drängt darauf, dass wir dieselben Handgriffe noch leichter machen können, mit weniger Schwielen an den Händen und möglichst ohne Materialverlust. Wenn man mit diesem Blick ins Tierreich schaut, scheint vieles verbesserungswürdig. Allein, dass die vierfüßigen Leutchens da alle auf unbefestigten Wegen rumlaufen … welche Verletzungsgefahr! Es ist ja nur teilweise richtig zu sagen, in der Natur regele sich alles selbst; denn vieles regelt sich eben dadurch, dass einer umkommt. Das ist natürlich auch eine Lösung. Aber keine, die wir Menschen akzeptieren könnten - für uns.

Und für unsere Haustiere akzeptieren wir sie vielfach auch nicht. Wir ziehen ihnen Splitter aus den Pfoten, spritzen ihnen Antibiotika und behandeln sie mit Herztabletten, natürlich nicht ohne vorherigen Ultraschall. Das Haustier wird von uns aus dem ganz weiten Feld der Kontingenz und des Dem-Schicksals-ausgeliefert-Seins herausgenommen und näher an uns, das Herdfeuer der menschlichen Für- und Vorsorge, herangestellt.

Paradox wird es da, wo sich die Grenzen des Haustiers und des Nutztiers überschneiden. Wenn man ein Schwein, ein Schaf oder eine Kuh als Haustier hält und eines Tages dem Tierarzt erklären muss: Nein, in diesem Fall kommt Schlachten nicht in Frage, bitte BEHANDELN Sie es. Von einem verwandten Phänomen erzählen auch manche, die diese Tiere zwar als Nutztiere hielten, sich dann aber näher anfreundeten als vom offiziellen Status des Tiers her erlaubt. Monatelang lagerten Trudis Steaks und Wölfchens Speck dann noch in der Tiefkühltruhe und wurden nicht angerührt.

Und auch den umgekehrten Fall gibt es, dass man ein Tier aus dem engeren wieder in den weiteren Kreis entlässt; wenn man ein verletztes Wildtier gesundgepflegt hat oder bei einem vermeintlichen Terrariums-Tier einsehen muss, dass es selbst eine andere Wahl treffen würde: mehr Freiheit, auch auf Kosten der Sicherheit.

Wie nah wir ein solches Tier an uns, den Tierarzt oder einen Futtertrog heranlassen wollen, scheint also ganz uns überlassen. Die griechischen Schafe, was scheren sie uns? Doch wie die argentinischen Rinder und Münchner Labormäuse haben wir auch sie, in vielen, die gesamte Welt umspannenden Kreisen, dienstbar gemacht für unsere Gesundheit, Sättigung, Behaglichkeit. Vermutlich schulden wir ihnen noch sehr viel mehr, aber zumindest: Mitleid und Dankbarkeit. Und deswegen sehe ich auch nicht ein, warum als Nachrichten immer nur Nachrichten gelten, die Menschen betreffen, warum der Tod von 60.000 Schafen kein zeitungswürdiges Thema sein soll und im Fernsehen immer nur vom "Verlust der Landwirte" die Rede ist.

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5 Kommentare

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  • MG
    mariane gruber

    Betrifft: Verbrannte Tiere in Griechenland

     

    Für die Ausführungen von Frau Hilal Sezgin kann man nur dankbar sein.

    Es gibt keinen Grund, angesichts leidender Menschen die Leiden anderer Lebewesen zu verschweigen. Dies gilt für alle noch so schrecklichen von Natur oder Mensch hervorgerufenen Kastastrophen.

     

    MfG

    m. gruber

  • S
    Sam

    Fragen darüber ob ein Mensch mehr Wert ist als ein Tier, ist falsch überlegt. Heute wissen wir alle, dass das Tier zweifelsfrei Leid und Schmerz empfindet, wie wir Menschen. Angst, Todesangst und Einsamkeit fühlen kann, also ist die Frage eher in der Ethik zu suchen. Menschen und Tiere sind bei den Bränden mit den gleichen Impulsen beim Sterben in den Flammen verstummt. Denken Sie an die vielen Kettenhunde, denken Sie an das Feuer, dass unweigerlich näher gekommen ist, das Tier unter totaler Panik an der Kette, lebendig verbrannt ohne eine Chance auf Flucht. Wir haben uns über die Tiere erhoben und es wird immer Menschen geben, die sich über Menschen erheben, der Ursprung ist immer derselbe und es hat immer schon bei den Tieren begonnen. Wir haben den Wahnsinn in Bewegung gebracht, die Menschlichkeit gibt es nicht, solange wir auch von den schwachen Menschen wie von den Tieren unseren Profit herausschlagen. Die Grenze von Mensch und Tier, hat es nie gegeben.

  • AT
    Annemarie Trabelsi

    Eine sehr gute Frage, die ich mir auch gestellt, aber angesichts der schrecklichen Katastrophe nicht gewagt habe, laut auszusrechen.

    Ja, was bedeutet das Leben bzw. Ableben von 60.000 Schafen im Vergleich zu dem schrecklichen Tod von mehr als 60 menschen, insbesondere dieser Mutter die mit ihren vier Kindern im Arm gestorben ist.

    Eine von Menschenhand gemachte Katastrophe in einem Land mit einer völlig korrupten Regierung. Warum werden nach Waldbränden immer wieder Baugenehmigungen erteilt für eben diese Gebiete? Wenn das endlich unterbunden würde, dann würde es sich für diese Verbrecher nicht lohnen, den tod von Mensch und Tier billigend in Kauf zu nehmen.

    Der Mensch kann sich wehren, das Tier aber nicht, es muß alles erdulden was der Mensch im auferlegt.

    In meinen Augen sind Politiker, die sich von Grundstücksspekulanten schmieren lassen viel niedriger als ein Tier.

    Wie verkommen ist diese Welt, in der nur noch das Materielle zählt.

  • AG
    Anke Guido

    Mein Eindruck ist leider nicht, dass bei der taz sonderlich viel Verständnis für Tiere vorhanden ist, siehe beispielsweise die unsägliche Serie "Kreaturen, die die Welt nicht braucht". Sehr wohltuend von dem auch in der taz allzu oft durchscheinenden Zynismus, wenn es um die Rechte von Tieren geht, heben sich die Artikel von Hilal Sezgin ab. Ihr vielen Dank dafür!

    Im Mensch-Tier-Verhältnis geht es jedoch weniger um die Fürsorgepflicht (auch wenn diese angesichts der gegenwärtigen Machtverhältnisse zunächst durchaus erstrebenswert ist), sondern um Rechte und Freiheit.

    Mir scheint, auch bei den Menschen, die begriffen haben, dass Kategorien wie geographische und soziale Herkunft, Religion, Geschlecht, sexuelle Identität etc. dazu da sind, dass wir uns im Interesse der Machthabenden gegenseitig zerstören, ist meist noch nicht angekommen, dass auch die Spezies eine weitere Kategorie ist, der innerhalb einer hierarchischen Struktur ein Status zugewiesen wird, um das Gefüge von Unterdrücken und Beherrschtwerden aufrechtzuerhalten.

    Den Tieren wird dabei der unterste Status zugewiesen, ihnen werden von der Allgemeinheit keinerlei Rechte oder ein Eigenwert zuerkannt. Sie werden lediglich in ihrer Funktion und ihrem Nutzen für den Menschen gesehen.

    Ebenso wie die Rechte und die Freiheit aller Menschen voneinander abhängen, kann es auch für die Menschen keine Freiheit und kein Leben ohne Hierarchien geben, wenn sie die Rechte, die sie für sich selbst in Anspruch nehmen, nicht auf die Tiere ausdehnen.

    Dabei kann jede/r dies im Alltag umsetzen. Genauso wie ich mich entscheiden kann, nicht rassistisch, sexistisch, homophob etc. zu handeln, kann ich mich entscheiden, soweit ich darauf Einfluss habe (in unserer auf kompletter Verwertung der Tiere aufgebauten Welt ist dies leider nur annähernd möglich), auch Tiere nicht auszubeuten. Will heißen, mensch kann sich entscheiden, vegan zu leben.

  • AZ
    A. Z.

    Irgendwer musste ja mal fragen. Die griechischen Schafe, was scheren sie uns? Schulden wir ihnen nicht zumindest Mitleid und Dankbarkeit? Warum gelten als Nachricht immer nur Nachrichten, die Menschen betreffen? Ganz einfach: Weil nicht nur die Nachrichten-Sendezeit, sondern auch die menschliche (Mit-)Leidensfähigkeit begrenzt ist. In der Rubrik Drama war neben der Nachricht vom Tod einer Mutter, die im Sterben ihre vier brennenden Kinder umarmt, einfach kein Platz mehr für eine Information über das Ableben von 60.000 Schafen. In der Rubrik Materielle Schäden hingegen war noch Raum frei. Der Mensch lebt eben mit und von seinen Prioritäten - wie jedes andere Tier auch. Mitunter lebt er sogar für sie, und das, behauptet er dann gern, macht ihn zum Menschen.