Kolumne Post aus New York: Der Wandel der Evangelikalen
Lange galt in den USA die Einheit von Republikanern und christlichen Konservativen als unumstößlich. Doch die entdecken auf einmal die Nächstenliebe
"In meiner Bibel steht nirgends, dass ich ökonomisch oder politisch konservativ sein muss", sagt Richard Cizik, Vizepräsident der Nationalen Vereinigung der Evangelikalen in den USA. Denn: Wäre es so, dann könnten Gottesfürchtige ja nur Republikaner sein. Bei den letzten Wahlen 2004 schien das noch so zu sein, als 78 Prozent der Evangelikalen George W. Bush gewählt haben. 2008 können die Republikaner sich deren Unterstützung nicht so sicher sein - und das wird es John McCain sehr viel schwerer machen zu gewinnen. Cizik jedenfalls gehört zu einer wachsenden Gruppe von Evangelikalen, die ihre Unterstützung für die republikanische Politik in Frage stellen.
Das Bündnis zwischen den Gläubigen und der Partei geht zurück auf die späten 60er-Jahre und war eine Antwort auf die "zügellose" Gegenkultur dieser Zeit, die Aktivisten der Bürgerrechts- und der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung. Schließlich gaben sie Amerikas individualistische, disziplinierte Tradition preis und kümmerten sich nicht um die Verpflichtung, für Freiheit und Liberalismus und gegen den Kommunismus weltweit einzutreten. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges blieben eine liberale Wirtschaftsordnung und ein starkes Militär die Basis der konservativ-religiösen Bewegung. 2004 sagten bei einer Umfrage 93 Prozent der weißen Evangelikalen, es sei "außerordentlich oder sehr wichtig", eine starke Militärmacht zu sein; 74 Prozent unterstützten den Irakkrieg und 72 Prozent glaubten, dass präemptive Militärschläge gerechtfertigt seien.
Doch das ist Vergangenheit. In den letzten Jahren konnte man bei einem Teil der Evangelikalen eine Verschiebung der Prioritäten beobachten - für sie ist nun Jesu Botschaft von Liebe und Hilfe für die Bedürftigen wichtiger. Das betrifft im Wesentlichen die jüngere Generation, doch die umfasst, glaubt man Cizik, "so ziemlich jedermann bis zum Alter von 69 Jahren".
Der Sinneswandel nahm seinen Ausgang beim Thema Umwelt. 2006 warnten 86 evangelikale Führer vor der Klimakatastrophe. Im Jahr darauf veröffentlichte die Vereinigung der Evangelikalen einen Aufruf zum Klimaschutz, in dem es hieß: "Dies ist Gottes Welt, und jeder Schaden, den wir in Gottes Welt anrichten, ist ein Angriff auf Gott selbst." Der Wandel setzte sich in der Außenpolitik fort. Auf Drängen der Evangelikalen erhöhte US-Präsident Bush 2004 den Etat für Entwicklungshilfe von 7 - die Summe, die die Vorgängerregierung Clintons festgelegt hatte - auf 19 Milliarden Dollar. Zudem musste er sich dafür kritisieren lassen, dass er den Völkermord in Darfur nicht beendet hat.
Mehr noch als die republikanische Politik tadeln Evangelikale ihre eigene Bewegung. In dem kürzlich erschienenen Buch "Unchristian" verurteilen David Kinnaman und Gabe Lyons ihre Gemeinschaft als heuchlerisch, von sich eingenommen und selbstgerecht, als zu schwulenfeindlich und zu politisch. "Warum stürzen wir uns so auf diese Sünde [Homosexualität; d. Red.] wo doch der Götzendienst die größte Sünde in der Bibel ist. Stolz ist eine Sünde." Sie empfehlen, dass man die anderen Menschen liebe, wie auch Gott selbst jeden Sünder liebt.
In "The Kingdom Come. How the Religious Right Distorts the Faith and Threatens America" fragt der Evangelikale Randall Balmer dreist, warum man nicht anstrebe, Scheidungen zu verbieten, die ja auch in der Bibel untersagt seien, anders als Abtreibungen, über die Jesus nichts sage. Balmer schreibt: "Der evangelikale Glauben, der mich als Kind nährte und mich als Erwachsenen früher stärkte, wurde mir von den rechten Eiferern geraubt." Er geht so weit zu sagen: "Ich bin ein Feminist, weil Jesus ein Feminist gewesen ist." Und fährt später fort: "Diese radikale Auffassung von Jesu Liebe verträgt sich nicht gut mit den meisten politischen Programmen. Die Politiker machen sich Sorgen darüber, wie man an die Macht kommt und an der Macht bleibt, wohingegen das Ethos der Liebe Verletzlichkeit und den Verzicht auf Macht nach sich zieht."
In St. Paul in Minneapolis lehnt der einflussreiche Reverend Gregory Boyd es ab, dass die Kirche sich in Politik einmischt, moralisch urteilt über Sexualität oder die Vereinigten Staaten als "christliche Nation" bezeichnet. Zudem sollten seines Erachtens die Militärinterventionen der USA nicht glorifiziert werden. "Wenn du auf das Schwert vertraust, verlierst du das Kreuz." Das sagt auch Pastor Tri Robinson von der "Megakirche" Vineyard Boise. Er und seine Gemeindemitglieder wollen daher für einen Präsidenten stimmen, der "das ungeborene Leben ebenso schützt wie das Leben außerhalb des Mutterleibs" - das heißt: sich um Sozialleistungen für die Armen, Kranken und an den Rand gedrängten Menschen kümmert. Robinsons Kirchengemeinde ist ein Vorbild geworden für mehr als 1.500 Vineyard-Kirchen weltweit.
Die Wende bei vielen Evangelikalen ist weder klein noch elitär. Rob Bell etwa predigt jeden Sonntag vor 10.000 Gemeindemitgliedern in Grand Rapids, während weitere 50.000 online dabei sind. Er erklärt genau, wo seine Schäfchen ihren überschüssigen Reichtum abladen können, um den Bedürftigen zu helfen. Die veränderte evangelikale Agenda hat politische Konsequenzen. Bezeichneten sich zwischen 2001 und 2005 noch 55 Prozent der weißen Evangelikalen zwischen 18 und 29 Jahren als Republikaner, waren es 2007 nur noch 37 Prozent. Bei den Kongresswahlen 2006 stimmten 41 Prozent der Evangelikalen für die Demokraten. Und bei einer CBS-Umfrage im Oktober 2007 meinten 24 Prozent der Evangelikalen, die Demokraten nähmen sich ihrer zentralen Anliegen an, während das nur 10 Prozent von den Republikanern sagten.
Seit Januar 2008 hat eine große Zahl von Evangelikalen für den Republikaner Mike Huckabee gestimmt, einen früheren Prediger. Doch seit er aus dem Präsidentschaftsrennen ausgestiegen ist, hat sich die Mehrheit der evangelikalen Wähler anfangs nicht John McCain zugewandt. In Ohio etwa hat wohl vor allem Hillary Clinton von dieser Entwicklung profitiert.
Dennoch: Dass die Evangelikalen im Herbst mit großer Mehrheit die Demokraten wählen könnten, scheint eher unwahrscheinlich. Ein nicht zu unterschätzender harter Kern bleibt den Republikanern verbunden. Immerhin 59 Prozent der weißen Evangelikalen denken positiv über John McCain. Das hat seinen Grund nicht zuletzt in den konservativen Werten und Ideen der Republikaner, etwa dem "small government", also der Vorstellung, dass sich die Zentralregierung möglichst wenig in das Leben der Bürger einmischt. Es mag auch daran liegen, dass selbst die Evangelikalen, denen die Bedürftigen am Herz liegen, gegen Homoehe und Abtreibung sind - und nicht die Demokraten wählen.
Gleichwohl, die Abkehr eines Teils der Evangelikalen von den Republikanern, besonders bei der Wirtschaftspolitik, belastet das Bündnis. Wenn das Bündnis hier auf ganzer Breite bricht, wird es nicht mehr zu kitten sein.
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