Kolumne Parallelgesellschaften: Sexy Murat jubelt für Deutschland

Am Mittwoch spielen die Deutschen gegen die Türken. Für meinen Kioskverkäufer eine Zerreißprobe - fast.

Was Murat hoffte, gilt nun nicht mehr. Seine übliche Devise: "Wer nach oben will, muss arbeiten, und ich arbeite Flatrate", worüber er gern und oft mit seinen Kunden und Kundinnen spricht, ist vorläufig vergessen. "Was soll ich machen?" Mittwoch ist das Spiel der Spiele, und mitten in Neukölln sind die Loyalitäten eigentlich klar verteilt. Das Viertel grölte im Einklang, als die Türkei gegen Tschechien doch noch den Sieg abstaubte, nur einer im Quartier jubelte bei den Gegnern der Türken - und das hörte sich zwar laut, aber einsam an. Jetzt am Mittwoch, sagt Murat, "geht nicht mehr, zu sagen, die Türken gewinnen oder die anderen Türken". Das sind die Deutschen. Ballack oder Mertesacker, Frings oder Lehmann, im Zweifelsfall auch alle anbetungswürdig in diesem passgemischten Ort, wo die Hälfte deutsche Papiere hat, die andere Hälfte andere.

Murat raucht inzwischen wieder viel, obwohl seine Mutter gesagt hat, das würde ihn älter machen, was Mütter eben so sagen, um ihre Nesthäkchen - und Murat in seiner Familie ist eines - so sagen, um zu erreichen, was mit Strafandrohungen nicht mehr zu haben ist. Murat qualmt. Er sagt: "Die Türken interessieren mich nicht. Ich bin Deutscher. Mir ist Fußball eigentlich egal, aber über irgendwas muss man sich ja freuen." Und, "außerdem", fährt er fort, "was solln die Leute denken, wenn ich Schwarz-Rot-Gold gut finde und nicht den Halbmond". Eine Kundin kommt rein, flirtet mit Murat, der das ja wie bei allen Frauen sehr genießt, lächeln sie ihn begehrend an, diese Kundin jedenfalls sagt: "Ey, Murat, für wen auch immer du bist, können wir nicht zusammen Fußball Mittwoch gucken?"

Murat winkt ab: "Nee, ich guck allein", was nicht wahr ist, denn der 23-jährige gelernte Elektromonteur, der auf Strippenzieherei keinen Bock mehr hatte, lieber Lotto und Toto verwaltet und im Laden seiner Eltern den sexy Hausmeister des Viertels gibt, dieser Mann guckt ja in seinem Laden. Auf dem Flachbildfernseher. Und das wiederum ist ein guter Dienst an der Sache Neukölln, denn seit er abends "voll Flachbildschirm" anbietet, kommen nun erst recht alle Penner, um ein wenig Anschluss an die deutsche Public-Viewing-Moderne zu finden.

Aber Murat weiß immer noch nicht, für wen er mitfiebern soll. "Meine Mutter sagt, für die Mannschaft mit dem Mann, der dunkle Locken hat und so schöne Lippen", das kann also nur Ballack sein, "mein Vater meint, Türkei ist Türkei, aber so sagt mein Vater ja immer. Und ich? Ich will, dass eine Mannschaft ins Finale kommt, und das ist ja nun mit dem Halbfinale garantiert, denn es können ja nicht beide ausscheiden, "das weiß doch jedes Kind, sogar in Neukölln".

Er raucht schon wieder, die fünfte in einer Stunde, "muss das sein, würde meine Mutter jetzt sagen, aber was weiß sie schon von seinen Gewissensproblemen", für wen man nun sein soll, ohne gleich in abstinenten Gleichmut zu verfallen, etwa im Sinne von: "Is ma doch ejaal!" Murat ist nie etwas einerlei, nicht das Leben, nicht seine Eltern, nicht die Kunden, nicht die Penner, nicht der Fußball, nicht Neukölln und nicht die Kinder, die ihn morgens anzwitschern, ob sie ein Bonbon mehr haben können, auch wenn die Groschen nicht reichen.

Er sagt: "Ich jubel für beide. Ich glaube, so mache ich das. Geht auch. Ist wie arbeiten auf Flatrate. Man muss für alles sein, nicht meckern, nicht Nein sagen, nicht Ja, ich meine, ich mag beide Mannschaften, die mit Lehmann vielleicht ein bisschen mehr, weil … egal …", er nimmt hin, was hinzunehmen ist. Dass Mittwoch mein Viertel mal wieder überwiegend Türkei spielt, und sei es aus nostalgischen Gründen, weil die alte Heimat eben auch Heimat ist, wenn auch eine längst verlassene.

In den Laden kommt ein zehnjähriges Mädchen und möchte eine Illustrierte für Menschen ihres Alters, es sieht wie eine Bravo aus. Murat sagt zu ihr: "Für wen bist du denn Mittwoch, Türkei gegen Deutschland?" Murat weiß eigentlich, dass solche Fragen von Kerlen wie ihm, Knopfaugen hin, volle Lippen her, an Mädchen nicht gerichtet werden. Aber als Quartiersmanager des wahren Lebens macht er ja sowieso, was er will. Das Mädchen fühlt sich nicht angesprochen, aber dann dreht sie sich leicht um und flüstert fast: "Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich bin für dich." Daraufhin errötet, isch schwör, Murat heftig und lächelt. Schenkt ihr einen Lolli und sagt: "Okay!"

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