Kolumne Marx 2.0: Ein Systemvergleich der Paradiese
Waren die Leute früher, als es noch kein Internet gab, glücklicher? Ja – auch wenn sich das anhört wie Frank Schirrmacher.
F rank Schirrmachers Anti-Internet-Buch "Payback" sinkt in der Spiegel-Bestsellerliste langsam nach unten wie eine Schattenmorelle, hinterlässt aber einen fatalen neuen Zustand: Wer jetzt noch etwas gegen das Internet sagt, gilt als Fortschrittsfeind. Als ein Parteigänger Schirrmachers eben. Als FAZ-Leser. Als einer, der schon die Dampflokomotiven verteufelt hätte, wäre er bei ihrer Erfindung dabei gewesen.
Wer sich heute auch nur über Facebook lustig macht, kann sich wütender Reaktionen und des Vorwurfs, einer wohl verlogen-seligen Vergangenheit hinterherzuträumen, sicher sein. Mir ging es so, als ich am Sonntag Freunde wiedertraf. Noch vor zwei Jahren hatten wir uns jeden Sonntagmittag getroffen. Aber zwei Jahre sind in der digitalen Entwicklung zwei Jahrzehnte. Mit mir war eine französische Freundin, der ich deutsche Intellektuelle zeigen wollte.
Jeder hatte einen Laptop auf dem Schoß und kommunizierte nonstop noch mit anderen Leuten und mit zahllosen Netzen, Seiten, Downloads, man kennt das. Ich bin jung, ich mag das Neue. Freilich tat mir die französische Freundin leid, die kein einziges Mal zu Wort kam. Alle redeten gleichzeitig. Hunde bellten ohne Unterbrechung. Kleinkinder, noch ohne Laptop, klammerten sich verzweifelt an Tisch- und Elternbeine, weinten, hatten aber keine Chance auf Aufmerksamkeit, wie die Französin, wie ich. An der Tür klingelte es. Die Hausfrau rief etwas. Alle riefen etwas. Und das über Stunden. Es war das permanente Inferno.
Ich will das nicht kritisieren. Ich dachte in jener Situation nur, dass Frank Schirrmacher sich über eine Bestätigung seiner Thesen gefreut hätte. Und ich wollte wissen, ob meine Freunde heute glücklicher sind als vor fünf Jahren. Damals redete man ja noch in ganzen Sätzen, und es gab Momente, da hörte jemand sogar zu. Man trank Rotwein, der Hausherr, nämlich Holm Friebe, spielte ab drei Promille Gitarre. Sascha Lobo, noch ohne Irokesenschnitt, sah ihm dabei verliebt zu. Man las Luhmann und Levy und diskutierte darüber …
Ich drang nicht durch mit meiner Frage, bis ich sie brüllte. Holm selbst übernahm die Antwort, und sie war echt: "Nein! Um Gottes willen, nein, es war scheußlich damals!" Er schüttelte sich. Diese Gitarre, der Rotwein, entsetzlich! Nie wieder! Wie ich denn darauf käme, es klänge ja fast wie Schirrmacher …
Am Abend bin ich dann in die Galerie "Unter den Linden" gegangen, neben dem "Einstein" (dem für Politiker), und sah die Ausstellung "The Twins". Dort erhielt ich plötzlich doch noch eine andere Antwort als die von Holm und Lobo. Die berühmten Zwillinge stellen dort Fotos aus, die sie in ihrer Jugend gemacht haben. Eine Jugend, die sie, da sie die wohl hübschesten Mädchen ihres Jahrzehnts waren, mit Uschi Obermaier, Bob Dylan, den Kennedys, den Gettys und allen anderen hippen Personen der Zeit geteilt hatten. Der Vergleich mit der heutigen Paris Hilton drängt sich auf. Also ein Systemvergleich. Die Getty Twins, also die eineiigen Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann, waren in der Selbstinszenierung anders, raffinierter, genialer. Sie mussten keine kreative Energie für ihr Aussehen abgeben, da sie von allein gut aussahen, in jeder Sekunde. Sie wurden ständig fotografiert, wieder ohne eigenes Zutun, weil immer ein aktueller Superstar neben ihnen stand. Sodass sie Zeit genug hatten, auch selbst die Kamera zu bedienen. Vergleicht man nun diese Bilder mit denen von Paris Hilton oder anderen InTouch-Größen, begreift man den Unterschied. Die Welt damals war durchdrungen von Geist und Schönheit.
Davon ist nichts mehr übrig.
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