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Kolumne MachtDer bequeme Zorn

Bettina Gaus
Kolumne
von Bettina Gaus

Stirbt ein vernachlässigtes Kind, ist die Mehrheit wütend auf die Ämter. Zugleich findet sie Sparen unvermeidlich

K aum etwas empört die Öffentlichkeit in vergleichbarem Maße wie der Tod eines vernachlässigten oder misshandelten Kindes - und Empörung braucht Schuldige, gegen die sich der Zorn richten kann. In derartigen Fällen sind die immer schnell gefunden: Sozialarbeiter, Jugendamt und andere Behörden, die sich "nicht gekümmert" oder "weggeschaut" haben. Sehr bequem.

Er sei nicht sicher, ob sich die Arbeitsbedingungen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überhaupt noch verantworten ließen, sagt der Leiter eines Berliner Jugendamtes. Er sagt auch, dass er in den letzten Jahren mehrfach überlegt habe, seinen Job aufzugeben. Die Sparzwänge der letzten Jahre hatten zunächst schleichende, aber aufs Ganze gesehen dramatische Folgen. "Jeder und jede Einzelne bearbeitet inzwischen etwa 100 Fälle." Das sei etwa ein Drittel mehr, als von Fachgremien empfohlen. Der Anteil der Verwaltungsarbeit habe sich in den letzten fünfzehn Jahren fast verdoppelt.

"Um ein Beispiel zu nennen: Familienhilfe darf eigentlich einen Umfang von sechs Stunden pro Woche nicht überschreiten. Wenn man das für zu wenig hält, muss man in die Hierarchien gehen und ungeheure Begründungszusammenhänge konstruieren. Natürlich führt das auch zu internen Konflikten. Bei Sozialarbeitern stellt sich oft die Frage: Welche Angst ist größer: die vor den Vorgesetzten oder die, dass etwas schiefgeht?"

Bild: taz
Bettina Gaus

Bettina Gaus ist Autorin der taz.

Und dann geht eben manchmal etwas schief.

Nicht nur in Jugend- und Familienhilfe. Der Chefarzt einer Klinik in Nordrhein-Westfalen schildert, wozu Sparen im Gesundheitswesen führen kann: "Eine 89-Jährige, die bei ihren Kindern wohnte, hatte sich am Freitagabend einen komplizierten Oberarmbruch zugezogen. Die Kinder waren im Urlaub und sollten am Sonntag zurückkommen." Der Arzt nahm die Patientin für zwei Tage stationär in der Klinik auf. "Die Frau konnte sich in der Situation nicht alleine versorgen. Was ist, wenn sie nachts beim Gang ins Bad stürzt, weil sie mit dem ungewohnten Verband nicht zurechtkommt?" Seine Stimme bebt.

Die Krankenkasse weigerte sich, die Kosten zu übernehmen: Ein Oberarmbruch sei keine Indikation für einen stationären Aufenthalt. Nach langem Streit blieb die Klinik auf den Kosten sitzen - das ist nichts, was einem Verwaltungsrat gefällt. Und nichts, was sich selbst ein Chefarzt oft leisten sollte. Dem Zwang der Verhältnisse steht inzwischen selbst die Leitungsebene ohnmächtig gegenüber. "Die Betrachtung von Krankheit wird zunehmend mechanistischer. Der soziale Aspekt fällt weg. Der Mensch als solcher und seine Lebensumstände werden von dem System entkoppelt."

Natürlich kennen wir alle solche Erzählungen und Geschichten, seit Jahren. Aber Reformen können eben nicht jeden Einzelfall berücksichtigen. Findet jedenfalls die Mehrheit derer, die nicht betroffen sind. Die findet auch, dass Reformen nötig und Sparmaßnahmen im Sozialbereich zwar gelegentlich bedauerlich, aber insgesamt unvermeidlich sind. Zumal man ja auch Sozialschmarotzern das Handwerk legen muss. "Bei Streitfällen wie dem um die 89-jährige Patientin steht unausgesprochen dahinter immer die Unterstellung: Das Krankenhaus will die Kasse bescheißen", sagt der Chefarzt.

Und wenn ein vernachlässigtes Kind zu Tode kommt, dann weiß man ja auch, wer schuld ist. Eben das Jugendamt. Die Öffentlichkeit hat damit nichts zu tun.

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Bettina Gaus
Politische Korrespondentin
Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

3 Kommentare

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  • F
    Friederike

    Das Jugendamt tut was es kann. Viel zu wenig Leute und viel zu viel Gesetze, die manches "Eingreifen" behindern und verhindern. Unfähige Menschen gibt es überall und auf jeder Behörde. Die müssen dann eben woanders hin- und viele sind auch überfordert.

     

    Es müssen viel mehr ehrenamtliche Familienhelfer her, Sozialarbeiter und die, die immer nur dem Jugendamt die Schuld geben- das ist die Gesellschaft die immer weg sieht und dann urteilt.

     

    Geld muss her, weil die Gesellschaft der Armen sich auch verändert hat. Misstände, wo man hinsieht. Mütter, die nicht mehr zurecht kommen, weil sie keine Stütze haben von älteren Frauen. Nach wie vor sind die Frauen gefragt- sich gegenseitig zu helfen.

     

    Viele Probleme wie Alkohol und Drogen müssen angegangen werden.

     

    Seht nicht weg, macht mit- helft und gebt euch endlich mal für etwas ein.

     

    Jedes tote Kind oder vernachlässigte und missbrauchte Kind- ist unser aller Schande im Land.

     

    Ein Ruck muss durch Deutschland gehen, sagte Roman Herzog- Fangt mit dem Ruck bei eurem Nachbarn an- seid wieder füreinander da!

  • CM
    Caution! May be hot

    Bettina Gaus ist einer der wenigen (dafür aber um so wichtigeren) Gründe, weshalb ich die taz mag.

     

    Wieder und wieder bietet sie eine andere Sicht der Dinge an, die sich wohltuend von der übrigen Berichterstattung abhebt.

     

    Klar, ich fand auch, dass die Jugendämter versagt haben. Haben sie ja in gewisser Weise auch.

    Nur dieser Aspekt der Geschichten fehlte bislang weitgehend in der öffentlichen Debatte.

    Die Umstände, unter denen dort gearbeitet werden muss, waren mir persönlich nicht bekannt. Wenn ich mich recht entsinne, sind sie auch nirgendwo anders großartig thematisiert worden.

  • JL
    julius lieske

    Das billige eindreschen der Medien auf die Mitarbeiter von Jugendämtern, erspart den Schreibern den Konflikt, sich mit ihren Chefs auseinandersetzen zu müssen, wenn sie ernsthaft Kritik an der Ausstattung der Ämter üben würden. Die Jugendämter und die sozialen Dienste ersticken in Arbeit und sind beim besten Willen nicht im Ansatz in der Lage die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Die für Berlin genannte Zahl von 100 Fällen pro Mitarbeiter wird in etlichen Einrichtungen bei weitem übertroffen. Hinzu kommt, dass durch immer weiter ausufernde "Dokumentation" ein Grossteil der Arbeitszeit ausgefüllt ist, der dann an anderen Stellen fehlt. Die Mitarbeiter stehen darüber hinaus immer mit einem Bein im Knast, wenn ihnen aus Überlastung Fehler unterlaufen, die hier naturgemäss schreckliche Folgen haben können. Und das Ganze dann für ein Gehalt, für welches kein taz-Redakteur arbeiten würde.