Kolumne Klatsch: Linke Backe, rechte Backe
Kinder darf man nicht schlagen. Und doch kann so eine Ohrfeige für den Betreffenden eine lohnende Sache sein.
Ein Brief, der den Absender eines Anwaltes enthält, lässt meist nichts Gutes ahnen. "Rechtsanwälte Heck & Kollegen" stand auf dem Umschlag, der vor einigen Tagen in unserem Briefkasten landete, adressiert an den neunjährigen Sohn Henri. Oha. Das kann ja heiter werden, dachten die Eltern. "Heck & Kollegen" aus Tübingen sind schließlich nicht irgendwer, dahinter verbirgt sich eine der renommiertesten Kanzleien der Universitätsstadt, deren Anwälte in den ganz großen Prozessen wie Mord, Totschlag und Vergewaltigung zu Rate gezogen werden.
Uns war nichts bekannt geworden, worin der Sohn verwickelt sein könnte. Zudem war er doch noch strafunmündig. Vorsichtig öffnete die Mutter das Kuvert und las: "Vorfall Mai 2006". Jetzt dämmerte es ihr: Es war in jenem Monat, als ihr Sohn mit einer ziemlich roten Backe nach Hause kam. Wie sich herausstellte, hatte er mit seinem Freund in der Nähe einer Garage gespielt, als plötzlich der Besitzer erschien und ohne Vorwarnung dem Ersten der beiden eine schallende Ohrfeige versetzte. Weinend erzählte Henri zu Hause von dem Vorfall und nach einer telefonischen Beratung mit der nächstgelegenen Polizeidienststelle entschlossen sich Mutter und Kind, eine Anzeige wegen Körperverletzung zu erstatten. Noch am Abend klingelte die Mutter an der Türe des Ohrfeigers und stellte ihn zur Rede. Der wand sich ein wenig und murmelte etwas auf Sächsisch von "Sachbeschädigung".
Nichts gegen Sachsen. Ich hätte einen solchen Ausraster sogar eher einem Schwaben zugetraut. Garagen sind hierzulande nämlich heilige Orte, Gebetsstuben, in denen Reliquien wie Akkuschrauber, Rasensprenger oder Leichtmetallfelgen aufbewahrt und in tadellosem Zustand gehalten werden. Ich kenne nicht wenige Garagen, die mit Fußbodenheizung ausgestattet und mit Terrakottaplatten gefliest sind. Da kann man als Garagenbesitzer schon Angst bekommen, wenn Kinder in der Nähe spielen.
Monate vergingen, und als eines Tages die Tübinger Staatsanwaltschaft nachhakte, ob wir weiterhin auf der Anzeige beharrten, entschlossen wir uns, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Wir zogen die Anzeige zurück. Aber da mahlten die Mühlen der Justiz bereits. Sie verfolgte die Sache weiter. Nun lag dieser Brief im Briefkasten:
"Lieber Henri", begann er, "es ist sicher das erste Mal, dass du direkt von einem Rechtsanwalt einen Brief bekommst." Dann kam der Rechtsanwalt zur Sache: "Du hast von einem dir fremden Mann hier in Tübingen eine Ohrfeige bekommen. Der Mann war sauer auf Jungs, die an seiner Garage von vorher etwas kaputtgemacht haben. Er hat dann dich gesehen und dachte, du seist derjenige gewesen. In diesem Augenblick war er zornig. So ist es zu dieser Ohrfeige gekommen. Dem Mann, den ich als Rechtsanwalt vertrete, tut es leid, dass er dir eine Ohrfeige gegeben hat und du dadurch Schmerzen hattest." Bis dahin hatte Sohn Henri eher gleichgültig zugehört. Doch was nun folgte, ließ seine Gesichtszüge deutlich aufhellen. "Dem Mann tut es nicht nur leid, er will dir auch etwas schenken." Tatsächlich lag ein 50-Euro-Schein in dem Kuvert und die Mutter las nun zunehmend lauter: "Du kannst das Geld auf dein Sparbuch legen oder dir etwas kaufen, was du schon lange dir hast kaufen wollen. Mit freundlichen Grüßen, Rechtsanwalt C. Geprägs."
Auf einmal verwandelte sich in der Erinnerung jener Tag im Mai 2006 in einen Glückstag. 50 Euro! So viel Geld hatte Henri nur einmal von seiner Großmutter an Weihnachten geschenkt bekommen. So gesehen hätte es vielleicht auch noch eine zweite Ohrfeige auf die linke Backe sein dürfen. Henri setzte sich hin und bedankte sich in Krakelschrift: Mit dem Geld werde er sich entweder eine Eintrittskarte für ein Spiel des FC Bayern München kaufen oder einen alten Plattenspieler. Er wisse es noch nicht. Aber was er seither weiß: Post vom Rechtsanwalt kann etwas sehr Schönes sein.
PHILIPP MAUSSHARDT
KLATSCH Fragen zur Ohrfeige? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried über seine CHARTS
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