Kolumne In Fußballland: Günther in der Bredouille
Über die Ambivalenz eines Werder-Fans, der nicht weiß, ob er Tim Wiese noch mögen kann.
Mein Freund Günther, von dessen Anhänglichkeit an den SV Werder Bremen hier schon häufiger zu lesen war, hat seit einigen Tagen ein neues Familienmitglied. Zwar kann von einer verwandtschaftlichen Verbindung im engeren Sinne eigentlich nicht gesprochen werden und neu ist sie ebenfalls nicht, weil besagtes Familienmitglied schon seit fast drei Jahren dazugehört, aber folgenreich für Günther ist die Liaison erst, seitdem er sich motzende Vorhaltungen machen lassen muss, die auf den Satz hinauslaufen: "Hör mal, was der Wiese da gemacht hat, geht überhaupt nicht!"
Das stimmt natürlich, denn der potenziell lebensgefährliche Tritt des Bremer Torwarts gegen den Hals des Hamburger Stürmer Ivica Olic war schändlich, und selbstredend hätte Tim Wiese dafür vom Platz gestellt werden müssen. Auch ist Günther seit Jahrzehnten loyaler Werder-Anhänger und weiß daher, dass zum Leben des Fans eine fußballspezifische Sippenhaft gehört. Daher ist er auf die gleiche Weise Werder wie andere Menschen eben Hertha, Schalke oder Eintracht Braunschweig sind. Meistens ist das auch relativ unproblematisch, wenn dabei nur das Auf und Ab des sportlichen Erfolgs oder Misserfolgs verhandelt wird.
Bringt ein Spieler schlechte Leistungen und erweist sich als Flop, sorgt ein Trainer mit rätselhaften Aufstellungen für Kopfschütteln oder treffen Vereinsvorstände nicht nachvollziehbare Entscheidungen, ist es trotz der Familienbande für jeden Fan relativ einfach, davon demonstrativ und oft lautstark von ihnen abzurücken. Schließlich haben wir schon immer gewusst, dass der Stürmer ein Blinder ist und der Trainer sowieso, vom Präsidenten ganz zu schweigen.
Problematischer wird es aber, wenn ein zutiefst unsympathischer Spieler durch unsportliches Verhalten zum Erfolg beiträgt.
Man könnte da an die Fallsucht von Hamburgs David Jarolim denken oder an die Neigung zu dreckigem Spiel, wie sie Bayerns Mark van Bommel gerne auslebt. Der Fall Wiese wird dadurch noch komplexer, weil nicht seine Tat allein empörend war, sondern die fast völlige Abwesenheit eines Schuldgefühls (von später desinteressiert nachgereichten Entschuldigungen abgesehen) noch hinzukam. Außerdem war der Torwart schon zuvor ein laufender Imageschaden für seinen Klub, der sich in den letzten Jahren eine Art fußballerisches Ökosiegel erspielt hat. Auch im Erfolg blieben die Bremer stets die Gutmenschen der Liga und bildeten damit einen Gegenentwurf zur angeblichen Arroganz des FC Bayern oder zur Schalker Geldmaschine, die ihnen die besten Spieler wegholte.
Wiese jedoch ist nicht nur sportlich eher ein Oliver Kahn für Arme, auch das Auftreten des wahrhaftig mit Gel im Haar kickenden Keepers stammt eher aus der Rumpelkammer des Fußballs, denn eigentlich hat sich der klassische Prollkicker in den letzten Jahren eher rar gemacht. Wiese aber steht klassisch so breitbeinig und selbstzufrieden da, dass man nur staunen kann. Sollte es nicht stimmen, dass er mitunter im Ferrari die Straßen seines Heimatortes im Bergischen Land auf und ab fährt, um den Menschen dort zu zeigen, wie weit er es gebracht hat, wäre es doch zumindest gut ausgedacht.
Schon als Günther ihn noch im Tor von Fortuna Köln spielen sah, sagte er: "Ich bin froh, dass so einer nicht bei uns im Tor steht." Aber müssen wir nun von ihm verlangen, gegen diesen Wiese zu sein? Der mag zwar eben kein überragender Torhüter sein, ist aber als Nummer eins im Bremer Tor letztlich auch beim Publikum unumstritten. Sein Stellvertreter Christian Vander hat mit bescheidenen Auftritten die Sehnsucht nach einem Torwartwechsel ebenfalls nicht genährt. So erlebte ich Günther in den letzten Tagen verstrickt in eine Argumentation, nach der Wieses Tritt vielleicht doch nicht so schlimm war und seine Entschuldigung vielleicht doch nicht so miserabel, die ihn aber tief seufzend nicht einmal selbst richtig überzeugte. "Aber soll ich mir jetzt wünschen, dass er schlecht spielt oder gesperrt wird?", rief er schließlich.
Muss er das? Wohl kaum, aber das wird sein Leiden und das aller Fußballfans, die peinliche Kicker in der Familie haben, nicht wirklich lindern. Aber so ist das eben in Familien (und da gibt es nicht einmal Transferlisten).
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