Kolumne Immer bereit: Eintritt in eine neue Welt
Jugendweihe und Kriegsende, Antifas und Showprogramm: Alles muss mal anfangen.
S amstags stehe ich jetzt immer um sechs Uhr auf. „Die Skandalosität dessen, dass ich schon wach bin, wird nur dadurch übertroffen, dass ich in einer S-Bahn sitze und nicht betrunken bin“, hab ich letzte Woche getwittert. Dann habe ich aus dem Fenster geguckt und festgestellt, dass ich in Westend bin. Ich musste aber nach Ostkreuz. Ich trete nämlich sechs Wochen lang jeden Samstag im FEZ in der Wuhlheide auf und lese Texte. Jedes Jahr im Mai und Juni gibt es in der ganzen Stadt so Jugendweihe-Showprogramme mit Tänzern und Sängern. Manche auch mit Vorlesern. Zwischendurch hält jemand eine Rede.
„Und was reden die da?“, fragt meine Tante Erna abends. Sie hat uns zum Essen eingeladen. Es gibt Pelmeni. „Keine Ahnung“, sage ich, „Bin ja hinter der Bühne. Bestimmt was Bedeutendes.“
Tante Erna nimmt Haltung an und rezitiert: „Das Wertvollste, das der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben. Und nutzen soll er es so, dass ihm wertlos vertane Jahre nicht bedrücken und dass er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Aufbau des Sozialismus gewidmet.“
„War das dein Jugendweihe-Spruch?“, frage ich.
„Nee“, sagt sie, „Das war Nikolai Ostrowski in dem bedeutendem Werk „Wie der Stahl gehärtet wurde“.
„Ach du Kacke“, sage ich.
Selber hab ich nie Jugendweihe gehabt. Auch nicht Konfirmation. Als ich in dem Alter war vor zwanzig Jahren, war mir das eine zu kirchlich und das andere zu staatlich und beides irgendwie lächerlich antiquiert. Einen Haufen Kohle hab ich mir durch die Lappen gehen lassen. Stattdessen bin ich jedes Wochenende zu irgendwelchen Antifa-Demos gerannt, weil Frieda und ich die Jungs so toll fanden, die da mitgelaufen sind. Walpurgisnacht am Kollwitzplatz, da war noch was los! „Wenn die Bullen anrücken, dürft ihr nicht rennen“, wurden Frieda und ich am Lagerfeuer instruiert. Super Empfehlung! Ich kann überhaupt nicht gut rennen. Ich habe eine Gehbehinderung. „Mhm“, piepsten wir und klammerten uns verängstigt aneinander. Genauso wie am nächsten Tag, als Georg, der Edelpunk aus der Parallelklasse, auf uns zugerannt kam und mit wildem Flackern in den Augen brüllte: „Lasst euch von den Bullen nicht provozieren!“ Wir sind dann lieber schnell nach Hause.
Ich erinnere mich an die Demo „50 Jahre Kriegsende“. Stundenlang sind wir durch Berlin gelaufen und haben Arbeiterkampflieder gesungen. Tante Erna hat sich beeiert: „Ihr bourgeoisen Intellektuellenkinder!“
Nun sind es schon 70 Jahre, seit in Karlshorst die Kapitulationsurkunde unterschrieben wurde, direkt nebenan bei der Wuhlheide, wo diesen Samstag wieder drei Reihen aufgetakelte Teenager zu meinen Füßen sitzen werden. Die einen mit Turmfrisuren und Stöckelschuhen, die anderen in schlecht sitzenden Anzügen. Und dahinter die stolzen Eltern, Großeltern und neidischen Geschwister.
Ich soll nicht so abfällig reden, sagt Tante Erna. „Initiationsriten haben in fast allen Kulturen eine wichtige Bedeutung!“
„Ja“, sage ich.
„Es ist das Ritual zum Eintritt in die Erwachsenenwelt. In manchen Kulturen bekommen die Jugendlichen neue Namen.“
„Mhm“, sage ich. Mehr geht nicht, ich hab den Mund voll.
Mal sehen, wie ich dieses Wochenende in die Wuhlheide komme, wenn die S-Bahn nicht fährt. Vielleicht laufe ich einfach. Als Demonstration für 70 Jahre Kriegsende.
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