Kolumne Im Fußballland: Prototypisch paulianisch
Früher einmal, da hielten Braun-Weiße, die Schönspielen für bourgeoise Kunst hielten.
I had a dream, oder vielleicht war es auch nur ein Tagtraum, dass ich am Karnevalsfreitag im Kölner Stadion saß, um mir ein Fußballspiel anzuschauen. Die Ränge waren vollbesetzt und die Menschen sangen. Es war schön, wurde aber nach Anpfiff noch schöner, denn da spielt eine Mannschaft zügig und direkt, ballsicher und geschickt, von der ich die meisten Spieler noch nie gesehen hatte. Bei einigen hörte ich sogar die Namen zum ersten Mal. Sie hatten Talent und waren mit einer Idee ins Spiel gegangen, was nicht selbstverständlich ist. Doch was mich am meisten verblüffte: Die Spieler trugen das Trikot eines Klubs, in dem Fußball lange verboten war.
Vielleicht erinnert sich noch jemand an den FC St. Pauli, jenen wirklich interessanten Klub, um es einmal gehässig zu formulieren. Er war einzigartig wegen seiner braun-weißen Vereinsfarben und weil ihn das Publikum auf eine Weise in Beschlag genommen hatte wie nirgendwo anders. Warum das geschah und welche Auswirkungen es hatte, soll hier nicht noch einmal erzählt, aber auf einen Nebeneffekt davon hingewiesen werden, weil er hier wichtig ist: Beim FC St. Pauli ging es um Fußball stets zuletzt.
Das bedeutete auch, dass die Mannschaften in Braun-Weiß so spielten, wie der Acker am Millerntor, den sie Spielfeld nannten. Vielleicht war der Platz absichtlich schlecht, weil schlechte Spielflächen schlechte Mannschaften bevorteilen. Vielleicht war das aber auch Teil des Versuchs, einen fußballerischen Arbeiter- und Bauernstaat zu erreichen. Auf jeden Fall gab es im Schatten des Hochbunkers eine geheime Vereinssatzung:
§1 Du sollst nicht schön spielen, denn das ist bourgeois.
§2 Versuch es erst gar nicht, sondern hau das Ding einfach weg.
§3 Die Leute werden das gut finden, sie halten das für unbeugsam.
§4 Fußballerbeine zu Pflugscharen.
§5 "Fest entschlossen sein, keine Opfer scheuen und alle Schwierigkeiten überwinden, um den Sieg zu erringen!" (Mao)
Das führte beim FC St. Pauli letztlich dazu, dass man sich nicht seine Spiele anschaute, sondern seine Fans. Ob sie nun kollektiv mit den Schlüsseln klimperten oder gerade gegen irgendwas waren, wovon die anderen noch nicht herausgefunden hatten, dass es vielleicht gut wäre, auch dagegen zu sein. Obwohl mir das eigentlich gefiel, verlor ich irgendwann das Interesse daran und traf so völlig unvorbereitet auf meinen Tagtraum im Kölner Stadion. Der FC St. Pauli spielte dort lange Zeit deutlich besser als die teuerste Mannschaft der zweiten Liga. (Insider meinten hinterher, es sei das beste Spiel von St. Pauli gewesen, seit Mao den Gelben Fluss durchschwommen hat.)
Es wurde noch surrealer, als Holger Stanislawski in den Presseraum kam. Dem übernächtigt aussehenden Hamburger Trainer ohne Trainerschein fiel ein Päckchen Marlboro aus der Tasche, dann hielt er an einem Stehtisch einen rührenden Vortrag über Solidarität. Stanislawski ließ voller Inbrunst einen ganzen Kosmos der Zusammengehörigkeit erstehen: innerhalb der Mannschaft, aber auch mit den Fans, mit dem Stadtteil und dass alle einander verstehen sollten, weil die Kleinen nur so überleben können.
Dafür hätte er eigentlich stehende Ovationen verdient, obwohl seine Rede prototypisch paulianisch war, weil er natürlich vergaß, über Fußball zu sprechen. "Ihre Mannschaft spielt doch wirklich gut", sagte ich daher ermunternd. Er nickte und redete nun davon, dass sie immer aktiv spielen wolle und nie einfach nur destruktiv und abwartend. Er war immer noch ganz erfüllt davon, dass seine Jungs gegen die Millionarios der Liga in deren ausverkauftem Stadion ein Remis geholt hatten. Da ich mich gerne mitreißen lasse, beglückwünschte ich ihn, er schüttelte mir dankbar die Hand, und danach wechselte ich vom Tagtraum Fußball in den des Karnevals.
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