Kolumne Geschöpfe: Im Bildersturm verewigt
Ob Hochzeit, Urlaub oder Betriebsfest. Irgendwer fotografiert immer. Er soll bitte, bitte damit aufhören.
Arno Frank (36) ist taz-Redakteur. Er kann lesen und schreiben. In seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut sich gute Pornos an und raucht. Selbstgedreht, versteht sich
Ich möchte gerne eine neue Krankheit melden. Es handelt sich um eine psychische Krankheit und ist gekennzeichnet von zwanghaften Verhaltensstörungen, wie man sie von Suchtkranken kennt. Sie verläuft galoppierend und führt im Endstadium zu einer sinnlichen Abstumpfung, die ein skeptischer Philosoph vielleicht als Weltverlust bezeichnen würde. Ich will sie Fotografitis nennen.
In meinem bescheidenen Besitz befindet sich ein unscheinbares Köfferchen aus Blech. Ich schaue nicht oft hinein, denn das silberne Köfferchen ist randvoll mit Fotos. Es sind genau 728, ich habe sie neulich noch einmal gezählt. Fotos, die von der Geschichte meiner Familie „erzählen“, wie man so schön sagt, quer durch das zurückliegende Jahrhundert. Das älteste Foto ist kaum größer als eine Briefmarke, hat auch so einen gezahnten Rand und zeigt angeblich meinen Urgroßvater, der angeblich Lokomotivführer gewesen sein soll. Er trägt Mütze, einen buschigen Kaiser-Wilhelm-Schnauzbart und blickt ein wenig verkniffen durch den Gelbschleier der Jahrzehnte. Das Foto ist in einem professionellen Atelier aufgenommen worden, der Stempel auf der Rückseite ist noch lesbar: „1897“.
Das jüngste Foto zeigt angeblich mich selbst, wie ich mit langen Haaren und nacktem Oberkörper durch eine verschneite Landschaft spaziere, warum auch immer. Es ist ein hochnotpeinliches Foto, und der digitale Aufdruck unten am Rand verrät, dass es 1997 entstanden ist. Kurz danach habe ich aufgehört, Fotos zu machen. Es reicht, wenn alle anderen ständig drauflos fotografieren. Gerne würde ich auch damit aufhören, mich fotografieren zu lassen, aber das geht nicht, weil ich sonst als „verschroben“ gelte. Wie die „Wilden“, die das Foto fürchten, weil es ihnen die Seele raube. Außerdem ist der Leidensdruck des Fotografitiskranken einfach zu groß, er duldet keine Weigerung. Wer früher vielleicht mit seinem Feuerzeug zur Atmosphäre eines Konzertes beitrug, der wird heute mit der Handy-Kamera zu ihrem Parasit. Bei Familienfesten ist es besonders schlimm.
Kürzlich auf einer eigentlich recht schönen Hochzeit brach ein Blitzlichtgewitter los, als unterzeichneten hier Palästinenser und Israelis gerade den Friedensvertrag. Danach hatte das Paar gleich dreimal Hand in Hand aus dem Standesamt hinauszutreten, bis auch wirklich alle Verwandten diese Moment irgendwie festgehalten hatten. Ich weiß nicht, was damit gewonnen ist. Ich weiß nur, was damit verloren geht, nämlich der Moment selbst. Er hört auf, Moment zu sein, er verliert jede Weihe und verkümmert so zu einer schalen Simulation eines Ereignisses. Kasperletheater für die Kameras der Kranken. Sie sind außerstande, einen Anblick „in sich aufzunehmen“, sie müssen ihn aufnehmen. Kein Monument, kein schöner Anblick, dessen Eindruck nicht durch die Linse „verewigt“ würde, so erbärmlich das Ergebnis auch sei. „Das kann man auf einem Foto eigentlich gar nicht festhalten“, konzedieren die Infizierten manchmal zerknirscht, und dann halten sie dir doch die nächsten 500 Schnappschüsse von irgendwelchen faszinierenden Gebirgs- oder Unterwasserwelten unter die Nase. Auslöser der Fotografitis ist nicht nur die Verfügbarkeit entsprechender Apparate, das wäre zu banal. Es ist die nackte Angst. Angst vor dem Augenblick, dem seine Vergänglichkeit immer schon eingeschrieben ist, Angst vor dem Tod. Mit der Verve der Verzweiflung soll gebannt werden, was nicht zu bannen ist, das Leben an sich.
Ich selbst bin über solch eitles Gebaren auch nur deshalb meilenweit erhaben, weil ich mein Fotoköfferchen nach der letzten Zählung allzu dicht neben einem Gasofen habe stehen lassen. Als ich den Fauxpas bemerkte, waren schon etwa 500 der 728 alten Fotos in der Hitze untrennbar ineinander verbacken, hoffnungslos verklebt und damit auf alle Zeiten ruiniert. Ein katastrophaler Verlust, der mich dazu brachte, meinen Schädel auf die Tischplatte zu hämmern und mir in den Arsch zu beißen, abwechselnd, stundenlang. Bis mir endlich der Dreh mit der Krankheit einfiel. Jetzt gehts wieder.
Fragen zur Fotografie? kolumne@taz.de Morgen: Corinna Stegemann erzählt Märchen
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