Kolumne Geräusche: Die weißen Rosen der Apokalypse
Brauchen wir noch die Griechen in Europa? Ja, denn sie liefern den Soundtrack zur Finanzkrise - in einem größenwahnsinnigen Konzept-Doppelalbum der Band Aphrodites Child.
E s war schon dunkel, als ich durch Vorstadtstraßen heimwärts ging. Da war ein Wirtshaus, aus dem noch Licht schien. Ich hatte Zeit und mir war kalt, drum trat ich ein. Da saßen Männer mit braunen Augen und mit schwarzem Haar. Und aus der Jukebox erklang Musik, die fremd und südlich war. Als man mich sah, stand einer auf und lud mich ein. Ich sagte nein. Schließlich sind die Griechen bekanntlich ein Volk von "Abzockern", "Taugenichtsen" und "Tagedieben", das unverdrossen "die Hand aufhält" und "uns" um ein paar Milliarden Euro "anbettelt", damit es sein nichtswürdiges Dasein weiterfristen kann.
So entnahm ichs jedenfalls einer Presse, die "uns Deutschen" seit Wochen eingeschärft hat, dem bankrotten Griechenland um Gottes Willen keine Finanzhilfen zu gewähren. Insgesamt und mittelfristig geht es um runde 70 Milliarden Euro, von denen Deutschland vertragsgemäß 8,4 Milliarden übernehmen müsste. Das entspricht in etwa dem Sümmchen, das unser Staat demnächst durch die Versteigerung neuer Mobilfunkfrequenzen einzunehmen gedenkt, dem Netto-Jahresgewinn von Nestlé oder den Gesamtkosten für die Nabucco-Pipeline.
Gut, die Griechen haben "uns" die Demokratie gebracht, Homer und die griechische Liebe. Lorbeeren, auf denen sie sich nun auch schon seit 2.500 Jahren ausruhen. Im Pop ist das nicht anders. Gerade hierzulande werden Griechen völlig zurecht vor allem als nicht allzu exotische Farbtupfer in einer ansonsten gleichgeschalteten Unterhaltungsindustrie wahrgenommen. Klangvolle Namen wie Vicky Leandros ("Theo, wir fahrn nach Lodz"), Melina Mercouri ("Ein Schiff wird kommen") oder Nana Mouskuri ("Weiße Rosen aus Athen") aber werfen die Frage auf: Gibt es denn gar keinen nennenswerten Beitrag zur Popkultur des Abendlandes?
Arno Frank ist Redakteur des taz-Ressorts "Gesellschaft, Kultur und Medien".
Doch, den gibt es. Er steht bei mir im Regal, auf Vinyl, ist vor 38 Jahren erschienen und harrt seitdem derer, die es mit ihm aufnehmen. Es handelt sich um "666", das nach allen psychopathologischen Kriterien größenwahnsinnige Konzept-Doppelalbum der griechischen Band Aphrodites Child. Die meisten Kritiker haben das Werk als "Junk" eingestuft. Für mich ist es systemrelevant.
Es handelt von der Offenbarung des Johannes, mithin von der Apokalypse und muss daher als offizieller aktueller Soundtrack zur Krise gehört werden. Zu euphorisch überbordendem Progrock mit Hang zu Freejazz, Blues, Proto-Techno, einer Vorahnung von Punk und unverkennbar globalisiertem Ethno-Einschlag erteilt eine kastratenhaft falsettierende Stimme prophetisch finanzpolitische Ratschläge - etwa zur Frage, ob "wir" die Griechen überhaupt brauchen: "But I need you madly/ And you need me too/ And we need each other".
Aber ich will nicht zuviel verraten, sondern das Schmuckstückchen bei Ebay anbieten. Verhandlungsbasis: 8,4 Milliarden Euro. Das sollte es irgendeiner Rating-Agentur schon wert sein.
Text: "We got the system/ To fuck the system (Aphrodites Child)
Musik: Knubbelige Kleinkindfersen, die mit eifrigen 120 BPM über das Parkett bollern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland