Kolumne Das Tuch: Das Leben der Anderen
Wie Klara das Kopftuch trug und es wieder ablegte, weil es sie zu zerreißen drohte.
D er 1. Mai. In Kreuzberg lässt laute fröhliche Musik die Erde beben, die Sonne knallt und an den Straßenecken schlängeln sensationsgeile Krawallanwärter in Schwarz umher. Neugierige Touristen mit baumelnden Riesenkameras vor dem Bauch fotografieren die jungen Kreuzberger, die endlich einmal auf dem Bürgersteig Grillen dürfen. Neben ihnen stehen türkische Frauen und verkaufen erfolgreich Gebäck. Ein chaotisch buntes Getümmel.
Nee, heute wollen mein Mann und ich lieber Ruhe. Am liebsten mit Strand und Wasser. Zusammen mit anderen Berlinern reisen wir also zu einem Familienevent am See, das muslimische Organisationen mit Hüpfburg, Bands und allem Drum und Dran veranstalten.
Ich sitze auf einer Bank am Strand und beobachte. Ein junger Vater mit Hemd und Brille sitzt im Sand und buddelt eifrig mit seinem Sohn. Andere Väter mit langen Bärten, dunklen Sonnenbrillen und hochgekrempelten Jogginghosen stehen im Wasser und laufen ihren kleinen Töchtern in pinken Badeanzügen hinterher, die vor Glück laut aufschreien.
Die Mütter sonnen sich auf den Bänken. Welch Idylle, denke ich. Ein bisschen sufistische Muslime hier, ein bisschen Salafiten da und durchwurschtelt mit dem ganzen großen Rest dazwischen.
Am Strand lerne ich auch Klara kennen. Klara ist Verkäuferin, sie hat kurze braune Haare, eine Brille mit Goldrand und ein freundliches Lächeln. Vor dreißig Jahren hat sie sich in einer norddeutschen Kleinstadt in Kemal, einen türkischen Gastarbeiter, verliebt. Zum Entsetzen ihrer Freundinnen. Ein Türke, wie kann sie nur! Er wird sie doch nur schlagen, unterdrücken und sowieso! Klara trotzt ihrer Umgebung und folgt ihrem Herzen, sie heiratet Kemal. Kemal ist selten zu Hause, er arbeitet hart als Schichtarbeiter und an den Wochenenden schuftet er zusätzlich in der Metallfabrik.
KÜBRA GÜMÜSAY, 22, lebt in Hamburg und studiert dort Politikwissenschaften. Daneben schreibt sie ihren Blog "Ein Fremdwörterbuch".
Klara will mehr über die Religion ihres Mannes, den Islam, erfahren. Er freut sich darüber. Als sie beschließt, das Kopftuch zu tragen, wenden sich ihre Freunde nun vollends ab.
Sie sucht deshalb Halt in der Moscheegemeinde. In der Kleinstadt besteht diese jedoch nur aus älteren Frauen, die aus den anatolischen Dörfern der Türkei hierhergekommen sind. Klara versteht sie nicht, und sie verstehen Klara nicht.
Als Kemal und sie eines Tages spazieren gehen, passiert es. Ein fremder Mann beschimpft Klara wegen ihres Kopftuchs. Schockiert blickt sie zu Kemal. Er schweigt und senkt den Kopf.
Klara gibt auf. Sie legt das Kopftuch ab, besucht die Gemeinde immer seltener. Heute hat sie noch immer kaum muslimische Freundinnen. Den Islam trage sie aber immer im Herzen, sagt sie. Sie hat sich arrangiert mit dem Leben zwischen zwei widersprüchlichen Welten in ihrer Kleinstadt.
Wenn Kemal arbeiten ist, kommen ihre Freundinnen von damals sie besuchen. Mit Kemal wollen sie nichts zu tun haben. Dann sitzen sie gemeinsam am Küchentisch und Klara hört ihren Freundinnen zu, die über ihre Ehemänner klagen. Und tröstet sie, wenn sie wieder von ihnen geschlagen wurden.
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