Kolumne Das Schlagloch: God is watching us
Wer sein Leben freiwillig ins Netz stellt, regt sich über Überwachungskameras nicht auf.
Jetzt also die Telekom. Aber warum nicht auch die? Und warum kommt man erst jetzt darauf, es zu veröffentlichen? Und warum findet es Spiegel Online skandalös, wenn bei der Telekom die Mitarbeiter ausspioniert werden, aber keiner Rede wert, wenn eine Wiener Universität eine Laborangestellte heimlich überwachen lässt, die Daten über die Schädlichkeit von Handystrahlen erfunden haben soll?
Warum hat man nicht gleich die anderen Kandidaten wie Alice, Arcor, Versatel, Vodafone und Konsorten mit untersucht? Warum, wenn es doch Ökostromanbieter gibt, hat noch kein findiger Unternehmer einen datenschützenden, "sauberen" Telekommunikationsanbieter gegründet? Vermutlich, weil es hier niemanden wirklich stört, wenn er beobachtet oder belauscht wird.
An der Börse jedenfalls hat die Telekom-Aktie nicht einmal im Traum gezuckt. Und bei Lidl oder Ikea sind heute nicht weniger Kunden als vor der Spitzelei-Veröffentlichung. Ich war auch schon wieder da. Warum sollten es Menschen ungehörig finden, unter Beobachtung zu stehen, die doch seit Jahrzehnten in Fernsehshows daran gewöhnt werden, dass man anderen dabei zugucken und zuhören kann, wie sie ihr kümmerliches Inneres nach außen stülpen?
Seit 1985 stehen die Bürger Englands im öffentlichen Raum unter ständiger Beobachtung und seit 2002 werben die Londoner Verkehrsbetriebe für ihre Videobeobachtung mit gemalten, dicken Augen, big brother is really watching you. Nicht nur scheint das niemanden zu beunruhigen, ganz im Gegenteil versicherten englische Bürger unlängst einem deutschen Fernsehteam, dass sie sich besonders sicher mit den urban eyes der CCTV (closed circuit television) fühlen. Zwar zu Unrecht, wie wir seit den Londoner Anschlägen von 2005 wissen (und auch Attentäter von 2001 wurden beim Betreten ihres Fliegers gefilmt), aber Gefühle stimmen ja sowieso selten mit Tatsachen überein.
Ich hatte eine Freundin, deren Vater Rabbiner war. Die Synagoge befand sich über der Wohnung der Familie im gleichen Haus. Drastisch schilderte R. die innere Panik, die sie als Kind ständig zuhause hatte, weil ihr das von der Synagogendecke hängende Ner Tamid, das ewige Licht (das Gottes Allgegenwart symbolisiert, von der Bette Midler so begeistert ist), ebenso allgegenwärtig im Bewusstsein war. God is really watching you. Das war in der Tat von anderer Qualität als die Furcht vorm Erwischtwerden, die ich kannte, wenn ich meiner Mutter ein paar Groschen aus dem Portemonnaie stahl.
Vielleicht ist das ja eine mögliche Erklärung für die ansteigende Akzeptanz des transparenten Bürgers: Wer als Kind keine Gottesfurcht kannte, wird sich doch als Erwachsener über ein paar Kameras mehr oder weniger nicht aufregen. Andererseits könnte für denjenigen, der Gottesfurcht gehabt hat, auch der Umkehrschluss gelten: Schon damals, als Gott immer zugeguckt hat, ist nichts passiert, wenn ich Böses tat - warum sollte ich mich da vor Kameras fürchten?
Dazu sei eingewendet, dass es ja "gute" und "böse" Kameraaugen gibt. Die guten wollen uns nur vor Unrecht schützen, die bösen hingegen gucken zu, wenn wir Geheimzahlen in Kreditkartengeräte oder in Geldautomaten tippen. Aber wie sollen wir das Auge als gutes oder böses identifizieren, das uns beim Geldabholen beobachtet?
Google soll alle Abfragen zwei Jahre lang aufheben, heißt es. "Und danach?", frage ich meinen Computerfreund Paul. "Danach verkaufen sie die Abfragen teuer an die CIA", sagt der achselzuckend. Ich kann das nicht glauben. Was sollen die denn bloß mit diesem furchtbaren Datenwust, mit all den bescheuerten Googlefragen, den Gesprächsfetzen aus Telefonaten, den Bildern von öffentlichen Plätzen anfangen, wo unsereiner schon zu viel kriegt, wenn der Schreibtisch aufgeräumt werden soll oder in der S-Bahn einer neben dir telefoniert. Man findet sich doch kaum noch in all den Informationen der eigenen kleinen Welt zurecht. Wieso sollte es den Beobachtern anders gehen? Wenn sie in der Lage wären, all die Informationen in ihrem Sinne zu übersetzen, wäre dann die Welt ein sicherer Ort?
Aber vielleicht ist die Sorge um unsere Daten, unser Gesicht und unsere Eigenschaften altmodisch. Jede Woche bekomme ich per Mail irgendeine Einladung, mich in Freundeslisten von Facebook oder ähnlichen Portalen anzumelden. Ich tue dies genauso wenig, wie ich mir Kundenkarten meiner bevorzugten Kaufstätten hole, obwohl ich diejenigen, die mich auf ihre Freundeslisten einladen, ganz gut kenne und sie keinerlei kommerzielle Interessen mit ihrem Angebot verfolgen. Sie sind nur mehr als 20 Jahre jünger als ich und ihnen ist es völlig schnurz, wer was von ihnen weiß. Ihnen ist der Staat kein natürlicher Feind mehr. Daran muss man sich ja auch erst mal gewöhnen. Unbekümmert zeigen sie auf Facebook Bilder ihrer Partys und Reisen, ihrer Wohnungen und ihrer Freunde.
Unsereiner versucht sich ebenfalls in Akzeptanz. "Jede Generation hat ihre eigenen Ängste", sagte meine ältere Schwester, als wir über die überfürsorglichen und ständig beaufsichtigenden neuen Eltern sprachen, die ihre Kinder im Biomarkt mit Einkaufsinformationen über das Regalangebot vollschwallen, aber nicht zulassen, dass sie ein Stückchen Welt alleine entdecken. Selbstständige Kommunikation mit fremden Erwachsenen ist diesen Kindern kaum möglich, wie ich in letzter Zeit immer wieder beobachte.
Erwachsene Männer sprechen ja kaum noch Kinder an, um nicht in falschen Verdacht zu geraten, aber Frauen wird das gleiche Misstrauen entgegengebracht, wenn sie sich nur dem Kind nähern. An solchen Müttern oder Vätern bin ich selten interessiert. Sind das die gleichen Männer oder Frauen, die vorher oder gar immer noch ihr Leben auf Facebook veröffentlichten?
Die Nachmittagstalkshows, mit denen alles anfing, haben immer weniger Zuschauer, weil sich mittlerweile jeder im Netz die eigene Show und den eigenen Datenmüll produzieren kann. Es gibt keine Müllabfuhr und keine Mülltrennung. Aber wer sollte auch entscheiden können, was verbrannt werden kann und was recycelt werden soll? Im Netz soll nichts verlorengehen und ist keine Veröffentlichung rückgängig zu machen.
Schämt man sich vielleicht mit 40 darüber, was man mit 20 öffentlich machte und was immer noch aufrufbar ist? Denn auch wenn jede Generation ihre eigenen Ängste haben mag, so bleibt dies vielleicht doch ein generationenübergreifender und universeller Einwand: Die menschliche Scham ist nicht zu unterschätzen und kann lebenslange Konsequenzen haben.
Die Erfahrung lehrt uns, dass die Beobachter, die Spitzel und Denunzianten sich selten schämen. Offenbar fehlt ihnen etwas für diese Empfindung im Hirn und an der Seele. Das Wort Scham wird ja auch heute fast nur noch sexuell oder religiös benutzt. Lasset uns also beten, dass es auch die Mitarbeiter von Telekom, Lidl, Ikea und wie sie alle heißen, wieder lernen …
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