Kolumne Das Schlagloch: Vom Wort zum Mord

Warum bleiben beim Mordfall Marwa El-Sherbini noch so viele Fragen offen?

Nach jedem gewaltsamen Tod fragen sich die Hinterbliebenen: warum? Sie durchforsten ihre eigenen Erinnerungen und suchen bei anderen nach Anzeichen einer möglichen Mitverantwortung. Es liegt in der Natur des Menschen, solche Fragen in geradezu quälender Fülle zu produzieren.

Der Justiz dagegen obliegt die Aufgabe zu untersuchen, ob tatsächlich menschliche Schuld oder Mitschuld im Spiel waren. Bisweilen wird es sich nur um verzeihliche Versäumnisse handeln oder um das, was man gemeinhin "unglückliche Umstände" nennt. In jedem Fall bliebe der jeweilige Tod ein tragischer; doch von moralischer oder gar justiziabler Schuld spräche man dabei nicht.

Bei den Begleitumständen, die zur Ermordung der Deutschägypterin Marwa El-Sherbini führten, handelt es sich möglicherweise um solch einen tragischen Fall. Ihr Mörder ist bereits verurteilt. Dennoch bleiben bei der interessierten Öffentlichkeit, die die bisherige Berichterstattung verfolgt hat, noch Fragen offen: Wie ist es möglich, dass ein ausländerfeindlicher Angeklagter in eine Gerichtsverhandlung ein japanisches Kampfmesser mitnehmen kann? Wieso löste sein Hassbrief, den er zuvor ans Gericht schickte, keine Sicherheitsvorkehrungen aus? Warum waren keine Polizisten im Verhandlungsraum, sondern mussten erst per Alarmknopf gerufen werden?

lebt als Publizistin in der Lüneburger Heide. Mit dem ägyptischen Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid veröffentlichte sie 2009 das Buch "Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam" (Herder).

Hätte man Alex Wiens aggressives Schreiben ernster genommen, hätte man ihn auf Waffen kontrollieren können. Und wären die Polizisten während der Verhandlung bereits im Saal gewesen, hätten sie nicht versehentlich auf Elwy Okaz, den Ehemann der Ermordeten, sondern auf ihren Mörder geschossen. Verständlicherweise erstattete Okaz Anzeige - unter anderem gegen den Präsidenten des Landgerichts, weil dieser Gebäude oder zumindest Verhandlungssaal hätte sichern sollen. Dieser Auffassung widersprach nun die Dresdener Staatsanwaltschaft und stellte am 30. 12. des vergangenen Jahres ihr Ermittlungsverfahren ein. Trotz der "unbelehrbare(n) rassistische(n) Grundhaltung des Angeklagten" seien "keine Hinweise dafür erkennbar (gewesen), dass er … tätlich werden könnte".

Dreh- und Angelpunkt bei der Beurteilung dieser Frage ist das Schreiben, mit dem Alex Wiens zuvor Einspruch gegen den Strafbefehl erhob. Es ist eine Mischung aus blankem Islamhass und pseudofeministischen Gemeinplätzen, die man überall zu hören bekommt. Manches davon könnte, sprachlich leicht aufpoliert, in fast jeder Zeitung stehen. Wiens schreibt: "Diese ,Frau', die ich angeblich beleidigt habe, trug ein Anzeichen von totaler religiöser und kultureller Unterwerfung von den Männern und dem Satangott, nämlich ein Kopftuch. Damit hatte sie Deutschland, seine Geschichte, seine Kultur und deshalb mich beleidigt. Ist das nicht Wahnsinn, dass eine Frau ihre Haare nicht öffentlich zeigen darf? Es passiert auch unfreiwillig, das ist eine alltägliche, allmähliche, nicht immer sichtbare Zerstörung der Kultur des Landes." Man streiche das Wort "Satangott", der Rest ist "islamkritischer" Konsens.

Andere Sätze aber hätten das Gericht alarmieren können: "Ich werde eher sterben, als für meine Bestrafung zu zahlen". Oder: "dass ich sie (die Muslime) für Feinde halte, und versuche nach Möglichkeit, nicht mit ihnen in Kontakt zu kommen. Falls sie trotzdem in meine private Sphäre eindringen wollen, trotz meiner Warnungen, werde ich schnell nervös. Und keiner auf der ganzen Welt kann mir vorschreiben, dass ich Feinde in meiner Nähe tolerieren muss."

Aufgrund dieses Briefs überlegte die für die erste Verhandlung zuständige Richterin, ob sie besondere Sicherheitsmaßnahmen anordnen sollte. Allerdings erschien Wiens dann persönlich in der Geschäftsstelle, um wegen eines Anwalts anzufragen, und verhielt sich dabei so unauffällig, dass sich die Richterin keine weiteren Sorgen machte. Im Nachhinein weiß man es besser: Man habe aus Marwas Tod gelernt, dass man auch die von "Verbalradikalen" ausgehende Gefahr ernster nehmen müsse, sagt Rüdiger Söhnen, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Dresden. Das Land Sachsen erhielt ein neues Sicherheitskonzept; in Dresden selbst wird jeder Außenstehende bei Betreten des Gerichts untersucht. Doch dass man es später besser weiß, heißt nicht unbedingt, dass man vorher einen Fehler begangen hat, der verzeihliche menschliche Unzulänglichkeit übersteigt. Oder doch? Handelte es sich bei der Sorglosigkeit der Richter um ein sträfliches Unterschätzen rechter Gewalt?

Alle inhaltlich relevanten Schuldfragen seien bereits bei dem Mordprozess gegen Alex Wiens gestellt und als haltlos ausgeräumt worden, erklärt die Staatsanwaltschaft. Doch genau das ist für Unbeteiligte schwer zu überprüfen. Irritierend ist zum einen, dass die Dresdener Staatsanwaltschaft ihren Dresdener Kollegen, die ihnen gut bekannt sein dürften, einen Strafprozess vor einem anderen Gericht erspart hat. Formal korrekt mag das sein, aber von Unbefangenheit und Transparenz der Justiz zeugt ein solches Prozedere grundsätzlich nicht.

Zum anderen hat aber auch die deutsche Presse ihre nötige Mittlerfunktion zwischen Justiz und breiter Öffentlichkeit nur mangelhaft erfüllt. Nachdem die Berichterstattung über die Ermordung Marwa el-Sherbinis als islamfeindlicher Tat nur sehr schleppend anlief, schwiegen sich Zeitungen und Fernsehen zur Einstellung der Ermittlungen gegen die Justizbeamten vollends aus. Dabei käme den Medien die Rolle zu, stellvertretend für interessierte Bevölkerungsgruppen nachzuhaken, ob alle offenen Fragen überzeugend geklärt sind.

So bleibt das unbefriedigende Gefühl, dass das Wechselspiel von Rede und Gegenrede, von Vorwurf und Rechtfertigung in diesem Fall, der von besonderem öffentlichem Interesse ist, noch nicht hinreichend ausführlich und nachvollziehbar durchgeführt ist. Gewiss, vielleicht würde ein Gericht zu dem Urteil kommen, dass keine Vernachlässigung von Sorgfaltspflichten vorliegt und dass sich der Mord - die entsprechende Absicht Wiens einmal vorausgesetzt - nach damaligem Ermessen nicht vermeiden ließ. In diesem Fall müsste man wohl, allen bohrenden menschlichen Fragen zum Trotz, von reiner Tragik sprechen. Vorher nicht.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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