Kolumne Daily Dope: Fortsetzung der Wertedebatte
Eisschnellläuferin Claudia Pechstein ist wegen Dopings für zwei Jahre gesperrt, doch sie will nicht aufgeben. Mit einem Langzeittest möchte sie ihre abnormen Werte erklären.
BERLIN taz | Es ist alles vorbereitet für die große Stunde des Gegenschlags. Die Entourage von Claudia Pechstein hat für diesen Donnerstag einen geräumigen und schmucken Hotelsaal in Berlin angemietet. Die Kameras eines Nachrichtensenders garantierten der Eisschnellläuferin für eine Stunde die republikweite Deutungshoheit über die Auslegung ihrer verdächtigen Blutwerte. "Man wird irre, wenn man die Schlagzeilen liest", bekennt Pechstein.
Seit dem 1. Juli ist sie vom Internationalen Eischnelllaufverband (ISU) für zwei Jahre gesperrt. Ihre Blutprofile sprechen für Blutdoping, sagt die ISU. Ihre Retikulozytenwerte schwanken beträchtlich. Retikulozyten sind eine Vorstufe der roten Blutkörperchen. Sie sind bei Pechstein laut ISU häufig im übernatürlichen Maße vorhanden. Die Muskulatur kann so besser mit Sauerstoff versorgt werden.
Die gute Nachricht zuerst: Claudia Pechstein ist nicht krank. Diesen Verdacht hatte sie Anfang Juli zuerst ausgesprochen, als sie eine Erklärung liefern sollte. Nun einen Monat später versuchen Pechstein, ihr Anwalt Simon Bergmann, ihr Manager Ralf Grengel und der Moderator Thomas Reckermann im gut einstudierten Wechselspiel Pechstein zu entlasten.
Die Verteidigungsstrategie fußt auf drei Säulen. Zum einen geht es um formale und verfahrensrechtliche Einwände. Anwalt Bergmann beklagt: "Pechstein wurde vom Schiedsgericht aufgetragen, sich selbst zu entlasten." Das sei die Umkehrung des Beweislastverfahrens. Außerdem würde das Verfahren auf Grundlage einer Rechtslage geführt, die erst seit Anfang dieses Jahres gültig sei, das belastende Material der Anklage stamme aber aus der Zeit davor.
Advokatenwinkelzüge. Genauso wenig entlastend wie der Versuch, die zugegebenermaßen wenig transparente Dokumentation der Dopingproben durch die ISU zugunsten von Pechstein auszulegen. Grengel erläutert, dass viele Dopingproben fälschlicherweise Pechstein zugeordnet wurden. Die auf den Proben verzeichneten Barcodes, die gemacht werden, um den Namen des Athleten zu verschlüsseln, seien in 40 Prozent der Fälle nicht identisch mit dem Code, der Pechstein bekannt ist. Wie die ISU aber bereits mitteilte, bedeutet das keineswegs, dass die Proben von unterschiedlichen Sportlern abgegeben sein müssen.
Interessanter ist der zweite Leitfaden von Pechsteins Verteidigungsstrategie. Die Sachverständigen Dr. Rolf Kruse, Leiter des Instituts "Referenzsystem für Bioanalytik", und Dr. Holger Kiesewetter von der Berliner Charité kommen als Sachverständige zu Wort. Beide stehen als Pate für die These, die Kiesewetter so zusammenfasst: "Retikulozytenwerte sind als einziger Parameter nicht geeignet für einen Dopingnachweis."
Die Schwankungen in Pechsteins Blutprofil einschließlich der Ausreißer nach oben (3,5 Prozent, der Grenzwert liegt bei 2,4) seien völlig normal. Es gäbe keine Standards für die Messungen. Insbesondere wenn man mit verschiedenen Geräten messen würde, kämen unterschiedliche Ergebnisse heraus. Pechstein bietet an, sich für genaue Blutstudien sechs Wochen lang zur Verfügung zu stellen. Sie will beweisen, dass ihre Werte immer schwanken.
Der letzte vermeintliche Joker des Pechstein-Teams ist wiederum ein schon längst bekannter. Bergmann und Grengel wollen die ISU diskreditieren. Sie behaupten, der Verband habe zweimal einen "Kuhhandel" vorgeschlagen. Pechstein solle sich zurückziehen und ihre Karriere beenden, dann wäre man bereit über alles zu schweigen. Neu ist nur eines: Anwalt Simon Bergmann sagt: "Herr Bubnik hat mir das am Telefon angeboten." Bubnik, ist Vorsitzende der Rechtskommission der ISU.
Das Gefolge um Claudia Pechstein hat sich detailversessen dem Sähen von Zweifeln gewidmet. Die Zweifel an Pechsteins Integrität konnten sie bis jetzt noch nicht zerstreuen.
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