piwik no script img

Kolumne Cannes CannesIch möchte lieber nicht

Cristina Nord
Kolumne
von Cristina Nord

Jafar Panahi erhält die Carosse dor, und bei Nanni Moretti wird der Kardinal Melville Papst.

Am schönsten an "Habemus papam" ist, dass Regisseur Nanni Moretti auf Melvilles Bartleby vertraut: "Ich möchte lieber nicht." Bild: dpa

U m zum Théâtre Croisette zu gelangen, muss man viele Treppen hinabsteigen; der Saal liegt im zweiten Untergeschoss. Das Meer ist nicht weit, die Luftfeuchtigkeit sorgt dafür, dass es nach nassen, getragenen Socken riecht. Am Donnerstagabend wird hier die unabhängige Nebenreihe "Quinzaine des réalisateurs" eröffnet. Bevor die belgische Slapstick-Komödie "La fée" beginnt, wird die Carosse dor verliehen, der Preis des französischen Regie-Verbandes. In diesem Jahr geht er an Jafar Panahi, der nicht persönlich anwesend ist, weil er in Iran zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde. Auf der Bühne finden sich mehrere Filmschaffende ein, unter ihnen Agnès Varda, Michel Piccoli, Olivier Assayas und der syrische Regisseur Oussama Mohammed. Eine Verbandssprecherin betont, die Auszeichnung würdige die künstlerischen, nicht die politischen Verdienste des Filmemachers. Varda, bald 83 Jahre alt, trägt den für sie so charakteristischen, zweifarbigen Pagenschnitt: oben grauweiß, unten tiefrot. Sie hält eine kurze Laudatio auf Panahi. Er gebe "allen inhaftierten, bedrohten, zensierten Künstlern ein emblematisches Gesicht". Varda versichert ihrem iranischen Kollegen "unsere kollektive Unterstützung und unsere Freundschaft", bevor sie dem Kulturminister Frédéric Mitterand das Wort überlässt, und auch der findet die angemessene Tonlage zwischen Trauer und Hoffnung, Pathos und aufmunternden Worten. "Es ist für uns alle unvorstellbar", sagt er, "dass Jafar Panahi in den nächsten Jahren eingesperrt sein wird."

Michel Piccoli taucht am Freitagmorgen wieder auf, diesmal allerdings nicht leibhaftig, sondern auf der Leinwand des Grand Théâtre Lumière. In Nanni Morettis Wettbewerbsbeitrag "Habemus Papam" spielt er einen Kardinal, der zum Papst gewählt wird. Doch dieser Papst, der nicht zufällig Melville heißt, ist von Gottes und der Kardinäle Votum so überfordert, dass er im entscheidenden Moment nicht auf den Balkon des Petersdoms treten und die Gläubigen begrüßen kann. Die Kardinäle sind ratlos, er selbst ist ratlos, ein von Moretti selbst gespielter Psychoanalytiker wird konsultiert, doch auch der ist ratlos: Wie soll er seine Arbeit machen, wenn beim therapeutischen Vorgespräch mehr als hundert Kardinäle zuschauen? Wenn er weder über die Kindheit, die Sexualität noch die Träume seines Patienten reden darf? Wenn ihm schon im Vorfeld unmissverständlich klargemacht wird, dass die katholische Vorstellung der Seele und die psychoanalytische Vorstellung des Unbewussten unvereinbar sind?

Beim streng geheim gehaltenen Besuch einer anderen Analytikerin entkommt Melville seiner Entourage; er vagabundiert nun durch Rom, schaut sich die Berichterstattung zum Konklave im Fernsehen an, spricht im Autobus mit sich selbst und lernt schließlich eine Theatertruppe kennen, die Tschechows "Möwe" einstudiert. Im Vatikan wird unterdessen eine Farce inszeniert. Damit niemand die Abwesenheit bemerkt, agiert ein Mitglied der Schweizergarde im Apartment des Papstes als Stand-in, das von Zeit zu Zeit die Vorhänge öffnet und schließt. Es gibt hinreißend komische Szenen in "Habemus papam" - etwa die, in der die inneren Stimmen der drei, vier Kardinäle, die für das Amt des Papstes favorisiert werden, zu hören sind. Sie alle beten, dass die Wahl nicht auf sie fallen möge. Oder die, in der sich die Kardinäle im Takt einer weichgespülten Version von Mercedes Sosas Latinohymne "Cambia, todo cambia" wiegen. Alles, alles ändert sich. Am schönsten an "Habemus papam" aber ist, dass Moretti in einer Zeit, der nichts so heilig ist wie die Affirmation, auf den guten alten Schreiber Bartleby aus Melvilles Erzählung vertraut: "Ich möchte lieber nicht."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Cristina Nord
Kulturredakteurin
Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!