Kolumne Älter werden: Lasst die Kirche nicht im Dorf
Liebe Generation 50 plus links: Auch heute gilt es Zweifel anzumelden - gerade wenn es um religiöse Dinge geht.
N ach dem gescheiterten republikanischen Aprilaufstand gegen das von den "Halben" (Konstitutionellen) dominierte Vorparlament in der Frankfurter Paulskirche, das nach Auffassung der radikaldemokratischen "Ganzen" um den badischen Landtagsabgeordneten und Advokaten Friedrich Hecker dabei war, die deutsche Märzrevolution von 1848 zu verraten, floh der geschlagene Freischarführer in die eidgenössische Schweiz. Als dann noch die vom reaktionären Bundestag mit Billigung des Fünfzigerausschusses, der zur Vorbereitung der ersten deutschen Nationalversammlung einberufen worden war, in Marsch gesetzten hessischen und bayerischen Truppen die republikanischen Erhebungen in Freiburg und Offenburg blutig niederschlugen und auch das von Frankreich aus in Baden einrückende republikanische Heer aus deutschen Exilanten aufgerieben wurde, hielt der "radikale Hund" (Heckerlied) die demokratisch-republikanische Sache für verloren und emigrierte in die USA.
Klaus-Peter Klingelschmitt ist Korrespondent der taz in Frankfurt. Das Bild zeigt ihn im Jahre 1968.
In einem Brief an die Revolutionärin und Frauenrechtlerin Emma Herwegh kommentierte er seine Auswanderung: "Nun leben Sie wohl und bedenken Sie, dass es in schlechten Zeiten zwei Schätze gibt, die uns alles bevölkern: Der Zweifel an allem und die Phantasie!" Das sind zwei weitere unverzichtbare Bausteine für den Überlebenskampf beim Älterwerden - neben der Ihnen, liebe wahlverwandte Altersgenossinnen und -genossen, schon bekannten Courage und einer konsequenten antidogmatischen Grundhaltung, die natürlich eng mit diesem Gebot des Zweifelns an allem korreliert.
"Lob des Zweifels" heißt es auch bei Bertolt Brecht: "Schönster Zweifel aber / Wenn die verzagten Geschwächten den Kopf heben und / An die Stärke ihrer Unterdrücker / Nicht mehr glauben!" B.B. weist allerdings ganz zu Recht auch darauf hin, dass dem Zweifel irgendwann eine Entscheidung in der Sache folgen muss, "damit am Ende nicht noch Verzweiflung daraus wird". Die Phantasie dagegen ist und bleibt Mobilitätsgarantie selbst noch bei Gebrechlichkeit in einem höheren Alter.
Der eloquente Philosoph und "Altersforscher" Montaigne sagt übrigens zum Gebot des Zweifelns nichts. Schließlich wurden Zweifler im christlichen Abendland des 16. Jahrhunderts von der Heiligen Inquisition schnell zu Ketzern erklärt. Sich aber wegen schlichter Wahrheiten von dogmatisch katholischen Irren vorzeitig in Asche verwandeln zu lassen und deshalb in die Geschichtsbücher einzugehen, war die Sache des klugen französischen Essayisten nicht.
Wir aber von der Generation 50 plus links brauchen heute in Mitteleuropa kein Blatt (mehr) vor den Mund zu nehmen. Melden Sie Zweifel an. Umgehend! Vor allem, wenn es - wie meist bei Montaigne - um religiöse Dinge geht. Glauben Sie nichts. Schmeißen Sie daheim und anderswo die Prediger aller Sekten raus, auch und gerade, wenn es Ihnen einmal nicht so gut gehen sollte. Verlieren Sie trotz aller berechtigten Zweifel dennoch nie Ihren Glauben an eine gerechtere Gesellschaft und an die Menschlichkeit; und bringen Sie bis zum Ende die Courage auf, dafür auch zu kämpfen. So wie der alte Hecker auch in den USA weiter an die "freie Republik freier Menschen" glaubte. Zunächst unterstützte er Abraham Lincoln im Präsidentschaftswahlkampf und kämpfte dann als Offizier der Nordstaatenarmee gegen die "Sklavenhalterstaaten" (Hecker) des Südens. Chapeau! Hecker starb mit 69 Jahren hoch geehrt in St. Louis/USA. Aus Splitterdeutschland war zehn Jahre zuvor das militaristische und nationalistische II. Kaiserreich geworden. "Ach, Ihr Revoluzzer! Hättet Ihr doch 1848 gewonnen!"
Raus: Alle Historienschinken (VHS) außer "El Cid", "Ben Hur", "Spartacus", "Gladiator", "Troja" und den genialen Shakespeare-Adaptionen "Macbeth" (R. Polanski) und "Heinrich V." (K. Branagh). Die letzte kurze Hose.
Rein: CD "Seven Moons" von Jack Bruce und Robin Trower; die Wiederauferstehung von Cream. CD Symphonie Nr. 11 von Felix Mendelssohn-Bartholdy. "Römische Geschichte II" von Titus Livius (Antiquariat).
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