Kolumne Älter werden: Über die Trunksucht
Warum ist das gesellschaftliche Leben in Deutschland demokratisch durchalkoholisiert? Weil es schon immer so war.
W er Sorgen hat, hat auch Likör (Wilhelm Busch). Wir, liebe Altersgenossinnen und -genossen der Generation 50 plus links, die wir ja (fast) alle extremistische Hedonisten sind, haben etwa französischen Orangenlikör sogar oft schon ganz ohne Sorgen (genossen). Und Schnaps noch dazu, obgleich wir seit Udo Jürgens wissen, dass den der Teufel gemacht hat, um uns zu verderben (teuflisch gut gemacht ist etwa der Marillenbrand aus der österreichischen Schwarzbrennerei). In unserem Keller lagern zudem noch ganze Batterien von Weißweinen, vor allem Riesling aus Rheinhessen und der Pfalz. Und gleich daneben liegen die Roten auch aus dem Rheinhessischen (Wagner-Stempel und Schäzel) und dem Bordeaux.
Was wollen wir trinken, sieben Tage lang? Kein Problem. Die alte Säuferhymne der pseudo-klassenkämpferischen Bots erklingt im neuen Stadion der TSG Hoffenheim immer dann, wenn der blaue Erstligist ein Tor geschossen hat. Zur Bionade greift danach ganz sicher kein Mensch; nicht auf den Rängen und nicht bei den VIPs. Der klassenlose Sixpack von der Tanke geht - modisch schick - längst als Männerhandtasche durch. Und die da oben bestellten beim Hanseatischen Wein- und Sektkontor per E-Mail mal eben schnell noch ein Kistchen Pertus, die Einzelflasche zum Schnäppchenpreis von nur 1.800 Euro.
Das gesellschaftliche Leben in Deutschland ist straight demokratisch durchalkoholisiert. Das aber war schon immer so. Bereits unser Hausphilosoph Michel de Montaigne (16. Jahrhundert) widmete einen seiner ganz wunderbaren Essais der Trunksucht. Darin heißt es unter anderem, dass dieses "rohe und viehische Laster nur bei den Deutschen, der gröbsten unter allen gegenwärtigen Nationen, in Ansehen steht". Und dass "die Deutschen jedes Gewächs mit dem gleichen Vergnügen trinken, weil es ihnen mehr darauf ankommt, es durch die Gurgel zu jagen, als es zu schmecken."
Klaus-Peter Klingelschmitt ist Korrespondent der taz in Frankfurt. Das Bild zeigt ihn als Gitarrist der Rockgruppe Dreadful Desire im Jahre 1969.
Gut. Montaigne kannte die Engländer nicht. Und in den (süd-) deutschen Landen, in denen er sich auf einer Badereise (1580/81) kurieren wollte - Montaigne litt an Blasensteinen -, durfte er auf Anordnung der Ärzte selbst zu den Mahlzeiten in den sehr sauberen Herbergen nur (Heil-) Wasser trinken. Da kriegt man - verständlicherweise - schon einmal so einen Hals und rächt sich dann literarisch. Dass aber das fürchterliche Komasaufen - wie in diesem Jahr sogar von rund 25.000 kleinen Mädchen praktiziert - in Deutschland schon damals total in war, ist unstrittig. Montaigne erwähnt ausdrücklich den Saufwettkampf, dem in der Antike allerdings auch schon die Griechen gehuldigt hätten (Stichwort: Ouzo).
Sie von My Generation werden sich fragen, was das alles jetzt mit unserem Älterwerden zu tun hat? Nun: Weil nur wir, die wir uns inzwischen auf die französische Art des Trinkens (Montaigne) verstehen - nur bei zwei Mahlzeiten am Tag mäßig -, es sind, die auch schon mal einen über den Durst trinken dürfen, wie uns der Weinhändler Montaigne altersmilde zugesteht. Kinder unter 18 Jahren dagegen sollten nichts Alkoholisches anrühren dürfen, und Erwachsene unter 40 Jahren sich nicht berauschen; schon gar nicht, wenn sie Richter sind oder dem Magistrat angehören. Uns reiferen Menschen (ab dem vierzigsten Lebensjahre) aber gibt der gute Gott Dyonis die Freude wieder - und den Greisen die Jugend. Und Montaigne zitiert Platon, der als Erfinder der vier Haupttugenden gilt, zu denen die Trinkerei nicht gehört: "Der Wein ist imstande, der Seele Mäßigung zu geben und dem Körper Gesundheit." Genau das ist es, was wir gerne glauben wollen. Santé, alter Grieche!
Rein: Kiste 2005er spinell (St. Laurent trocken) tazlese vom Weingut Pfannebecker (Rheinhessen).
Raus: Kiste 2007er Rosé aus der Provence für die Weihnachtsfeier der Nichtsesshaften im Übernachtungsheim am Rüsselsheimer Klärwerk.
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