Kollektive Unschuld von Bremen

Der Historiker Hans Hesse hat die Entnazifizierung in Bremen untersucht. Sein Fazit: Mit dem Thema wollte sich damals kein guter Bremer befassen. Es gab eigentlich keine Täter. Wilhelm Kaisen und Theodor Spitta haben 1953 die Akten geschlossen

„Bremen ist nur ein Beispiel dafür, dass die Entnazifizierung in Deutschland weitgehend gescheitert ist.“ Zu diesem Schluss kommt der Bremer Historiker Hans Hesse, der für seine Dissertation „Konstruktionen der Unschuld“ 50.000 Karteikarten und 700 Einzelfallakten auswertete.

Gekoppelt an die Ausgabe von Lebensmittelkarten mussten 400.000 BremerInnen ab Mai 1947 die Meldebögen nach dem so genannten „Befreiungsgesetz“ ausfüllen. Zahlreiche BremerInnen hätten sich aus der „amerikanisch-bremischen Enklave“ in das etwas laxer entnazifizierende britisch besetzte Bremer Umland abgesetzt, sagt Hesse – mitsamt Vermögen, was die Finanzbehörde deutlich spürte. Nach Auswertung der Meldebögen habe es in Bremen weitaus mehr Mitläufer und Entlastete als Belastete gegeben – eine Menge Unschuldiger eben. Der bekannten Argumentationsmuster habe man sich bedient: Bei der SS habe man doch nur Sport getrieben, der SA sei man nur beigetreten, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Frauen hätten vor den Spruchkammern oft darauf hingewiesen, sie seien doch eh nur sozial tätig gewesen. Denunziantinnen aber, ganz gleich welcher Prägung, seien höher belastet eingestuft worden als der weisungsbefugte Gestapo-Beamte am Schreibtisch.

Die „Betroffenen“, wie sie scheinbar neutral genannt wurden, mussten die Spruchkammer von Schuld oder Unschuld überzeugen. Nicht der Kläger hatte, wie es der juristischen Handhabe entspräche, Nachweise von Schuld oder Unschuld zu erbringen. Rechtfertigungen und der unbedingte Versuch sich reinzuwaschen waren damit an der Tagesordnung – „Persilschein“ wurden Ehrenerklärungen genannt, die bei den Kammern vorgelegt wurden.

Aber auch ganz praktische Probleme erschwerten eine gewissenhafte Entnazifizierung: Schon der erste „Befreiungssenator“ Friedrich Aevermann sei am Aufbau der Entnazifizierungsbehörde gescheitert, sagt Hesse: „Stühle, Tische und Schreibmaschinen haben ganz einfach gefehlt.“ Zu wenige Schreibkräfte – schon die Rückführung der Meldebögen der entlasteten BremerInnen habe die Behörde schnell an ihre Grenzen gebracht. Auch habe es, bei allem Engagement, an Qualifikation gefehlt. Es war bei der bremischen Bevölkerung verpönt, in der Behörde zu arbeiten, die meisten MitarbeiterInnen der Behörde waren selbst Verfolgte gewesen. Das sei im Grunde auch ihre Qualifikation gewesen, so Hesse. Nach zwei Jahren, Ende 1949, sei die Entnazifizierung in Bremen nach dem Weggang des zweiten Befreiungssenators Alexander Lifschütz von Wilhelm Kaisen und Theodor Spitta für beendet erklärt worden.

Von 1950 bis 1953, also ein Jahr länger als die eigentliche Entnazifizierung, wurden in einer so genannten Abschlussphase noch einmal alle Bremer Fälle der ersten beiden Kategorien – Hauptschuldige und Belastete – untersucht. „Und jetzt kommt der Hammer“, sagt Hesse: Bis auf drei belastete KZ-Wachmänner, die wegen mehrfachen Mordes zu der Zeit schon eine langjährige Schwurgerichtsstrafe absaßen, wurden auf Vorschlag von Theodor Spitta alle Belasteten zu Mitläufern zurückgestuft.

Die Entnazifizierung wurde als notwendiges Übel angesehen, als kollektiver Vorwurf gegen das deutsche Volk. „Deutschland, einig Opferland“, polemisiert Hesse. Daraus habe man die eigene Unschuld konstruiert. Vergehen wie der Rassismus und die Zwangssterilisationen seien in der Wahrnehmung der Betroffenen wie auch der Spruchkammern nicht einmal als verurteilenswerte Kategorie angesehen worden. Man sei damals anständig gewesen und sei es auch heute noch. Allenfalls habe man Befehle befolgt. Und mit Hilfe der Entnazifizierung haben sich die Täter von aller Schuld befreien können. aha

Das Buch „Konstruktionen der Unschuld. Die Entnazifizierung am Beispiel von Bremen und Bremerhaven 1945–1953“ von Hans Hesse ist im Staatsarchiv für 30 Euro erhältlich.