: Kollektive Aufklärung
Klassentreffen der Frankfurter Schule: Die Sigmund-Freud-Gesellschaft lud zur Tagung an den Main, aus Anlass des 150. Geburtstages ihres Namensgebers und um Alexander Mitscherlich zu ehren
VON MARTIN ALTMEYER
Alexander Mitscherlich war es, der am 6. Mai 1956 – zusammen mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – die unter den Nazis emigrierten oder zur Flucht gezwungenen deutschen Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen nach Frankfurt a. M. einlud, um Freuds 100. Geburtstag zu feiern. Und sie, die niemals zurückkommen wollten, kamen, weil sie dem Gastgeber vertrauten. So war es eine gute Idee, nun, an Freuds 150. Geburtstag, erneut nach Frankfurt zu laden und diese Tagung „Alexander Mitscherlich zu Ehren“ abzuhalten. So verwies diese Gedenkveranstaltung auf die Blütezeit einer kritisch angewandten Psychoanalyse in Deutschland.
Als Beobachter beim Nürnberger Ärzteprozess hatte Mitscherlich die grausamen Experimente an Patienten, die dort als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Sprache kamen, dokumentiert. Sein Bericht, der ihm in der deutschen Medizin den Ruf eines Nestbeschmutzers und Vaterlandsverräters einbrachte, war zunächst unter Verschluss gehalten worden. In erweiterter Form unter dem Titel „Medizin ohne Menschlichkeit“ (1960) veröffentlicht, trug dieses Buch entscheidend zur Aufklärung jener Menschenversuche bei, die das nationalsozialistische Projekt einer biogenetischen Gattungsoptimierung durch die Vernichtung des „Minderwertigen“ kennzeichneten.
Die Renaissance der Psychoanalyse in Nachkriegsdeutschland blieb eng mit dem Wirken von Alexander Mitscherlich verbunden, der als Mitbegründer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift Psyche, die nun im 60. Jahrgang erscheint, als Leiter des 1960 in Frankfurt a. M. gegründeten Sigmund-Freud-Instituts, vor allem aber als Autor die Psychoanalyse einem breiten Publikum zugänglich machte und in den Dienst einer kollektiven Selbstaufklärung der Nation stellte.
In seiner zeitdiagnostischen Studie „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963) beschrieb Mitscherlich bereits frühzeitig sozialpsychologische Konsequenzen einer modernen Massengesellschaft, die im Begriff war, in eine individualisierte Dienstleistungsgesellschaft überzugehen. Für das anhaltende Beschweigen der Nazivergangenheit in der deutschen Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderepoche lieferten Alexander und seine Frau Margarete Mitscherlich mit der „Unfähigkeit zu trauern“ (1967) einen psychoanalytischen Deutungsvorschlag: Angesichts der Leichenberge hätten die Deutschen den Verlust ihres mit Größenfantasien gefüllten kollektiven Ich-Ideals (in Gestalt des Führers) nicht ertragen und abwehren müssen. Mit der unvermeidlichen Trauerarbeit konnte erst mit zeitlichem Abstand und unter dem Eindruck des Auschwitz-Prozesses, der die Nachkriegsgeneration zu Fragen an Schuld und Verantwortung der Elterngeneration nötigte, begonnen werden, aber diese Arbeit wurde dann in einer kollektiven Anstrengung tatsächlich geleistet – nach dem psychoanalytischen Modell einer Aneignung von Lebensgeschichte durch Erinnerung.
Die hochbetagte Margarete Mitscherlich betonte nun auf der Frankfurter Tagung, dass das Angerichtete selbst und nicht irgendein Tabu Deutschland lange daran hinderte, die eigenen Opfer zu betrauern, und zog eine Linie vom nationalsozialistischen zum islamistischen Terror. Jan Philipp Reemtsma erinnerte angesichts der Diskussion über die Zulässigkeit von Folter an die Aktualität von Mitscherlichs Thesen zur menschlichen Grausamkeit, die niemals nur Mittel zum Zweck ist, sondern dem Täter auch jene Macht über den anderen verschafft, die er genießt.
Micha Brumlik machte darauf aufmerksam, dass die „vaterlose Gesellschaft“ sich auch einer realen Vaterlosigkeit verdankt, die im 20. Jahrhundert durch massenhaften Tod, körperliche Verwundung und seelische Traumatisierung von Männern in zwei Weltkriegen entstanden ist. Volkmar Sigusch formulierte eine Radikalkritik am globalisierten Kapitalismus, der mit seinen Systemimperativen dazu beiträgt, die Selbstsucht zu verherrlichen, die Sexualität zu verdinglichen und die Medizin zu entmenschlichen. Ilse Grubrich-Simitis warnte die Psychoanalyse vor einer Anbiederung an die Neurowissenschaften. Axel Honneth sprach schließlich über den Begriff der „inneren Freiheit“ bei Mitscherlich, jener Toleranz und Angstfreiheit in Bezug auf das eigene Innenleben, die der äußeren Toleranz gegenüber dem Anderen vorausgehen müsse und eine Bedingung für die multikulturelle Demokratie sei.
So versammelte sich eine in die Jahre gekommene Kritische Theorie. Es war ein Klassentreffen der Frankfurter Schule – auch Jürgen Habermas gesellte sich dazu. Von der Jugend, die zum 100. Freud-Geburtstag die Zukunft der Psychoanalyse bedeutete, war freilich wenig zu sehen.