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■ Kohls Regierungserklärung und die OppositionRollentausch

Wer noch die letzte Parlamentsdebatte vor der Bundestagswahl in Erinnerung hatte, der durfte sich gestern erstaunt die Augen reiben. Als hätten sich die Spitzenvertreter der Koalition fest vorgenommen, ihre seit dem 16. Oktober deutlich geschwächte Stellung regelrecht in Szene zu setzen, wirkten Helmut Kohls Regierungserklärung und Wolfgang Schäubles kleinteilige Assistenz fast schon wie der vorweggenommene Abgesang auf die christlich-liberale Regierungsperiode.

Ganz offenkundig stehen dem Kanzler die Selbstsicherheit und Selbstgerechtigkeit, aus der heraus er noch vor kurzem seine Widersacher zu deklassieren pflegte, nicht länger zu Gebote. Im Wahlkampf noch der Souverän der bundesdeutschen Politik, tat sich Kohl gestern sichtlich schwer, auf seine alten Tage noch einmal in die Rolle des Arbeitskanzlers zu schlüpfen, der, gestützt auf eine denkbar knappe Mehrheit und genervt von seinem angeschlagenen, liberalen Partner, die schmalen Ergebnisse der koalitionären Kompromißsuche als Zukunftsprogramm zu verkaufen hatte. Das mißlang. Gerade weil Kohl immer wieder die „Herausforderungen“ der bevorstehenden Legislaturperiode zu beschwören suchte, erschien der Widerspruch zwischen seiner Rhetorik des Umdenkens und den Trippelschritten des Regierungsprogramms um so gravierender. Die ungezählten Einladungen zu Gespräch und Kooperation, die Kohl und Schäuble während ihrer Reden aussprachen, gerieten da schon zur eigentlichen Botschaft. Doch es war nicht das Mißverhältnis aus Problemdruck und Handlungsspielraum, was Kohl den Auftakt zu seiner letzten Runde vermasselte. Komplettiert wurde der Eindruck einer Koalition mit dem Rücken zur Wand erst durch den Auftritt der Opposition, der die lustlos-müden Einlagen der letzten Legislaturperiode vergessen machte. Ein gelassen und offensiv agierender Rudolf Scharping, ein fulminanter, ironisch und zugleich verbindlich argumentierender Joschka Fischer rückten gemeinsam die schwarz-grünen Spekulationen der vergangenen Wochen erst mal in den Hintergrund. Der oppositionelle Einstand geriet nicht, wie Fischer unterstrich, zum billigen Generalverriß des Regierungsprogramms, sondern zum präzisen Nachweis, wo der Koalition Mut und Substanz fehlen, ihren eigenen sozialen und ökologischen Ansprüchen gerecht zu werden. Einladung zum Gespräch? Kohl, Schäuble und Kinkel werden Mühe haben, sich ihm zu entziehen.

Schlechte Aussichten für die Koalition: Sie verfügt nicht nur über eine knappe Mehrheit und ein dünnes Programm; sie sieht sich seit gestern auch einer Opposition gegenüber, die entschlossen scheint, ihre Rolle auch wahrzunehmen. Projiziert man ihren gestrigen Auftritt in die Zukunft, könnte die Konfrontation schneller als erwartet zur Demontage der Regierung führen. Doch auch jenseits aller Spekulationen über deren Verfallsdatum läßt die gestrige Debatte hoffen. Die Marginalisierung der Opposition ist zu Ende, das Parlament als Ort der politischen Auseinandersetzung wiedereröffnet. Das ist doch schon was. Matthias Geis

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