Körper und Internet: Zu mir oder zu dir?
Körper und Internet verschmelzen zusehends – so will es die Science Fiction. Doch wer kommt schneller zu wem? Das Netz in den Körper oder der Körper ins Netz?
Das Gerücht hält sich hartnäckig: Google will noch in diesem Jahr eine Brille auf den Markt bringen, die Informationen aus dem Netz einblenden kann. Die Datenbrille soll über einen kleinen Bildschirm, GPS- und Bewegungssensoren verfügen sowie mit dem Betriebssystem Android über Googles Server laufen.
Die New York Times schätzt den Preis auf „250 bis 600 Dollar“. Damit wäre sie wesentlich günstiger als die derzeit verfügbaren Datenbrillen und -helme. Wir kommen also im Jahr 2012 der möglichen Massenfertigung eines Geräts näher, das die Science Fiction der achtziger Jahre im vergangenen Jahrhundert bewegt hat.
Frauen mit Datenmasken und -brillen zieren das deutsche Cover von William Gibsons „Biochips“ (1986), auch in anderen Büchern der Zeit sind sie präsent. Einige der Werke gehören zur Nischen-Science-Fiction, „Biochips“ ist als Teil der sogenannten Cyberpunk-Literatur längst ein Teil der Populärkultur geworden.
Ob Google die Datenbrille nun für den Massenmarkt etnwickelt oder nicht, ist sekundär; Head Mounted Displays finden seit Jahren auch ohne den Netzkonzern Abnehmer, oft beim Militär. In jedem Fall ist das Gerät ein seltsamer Zwischenschritt auf dem Weg der von der Science Fiction vielbeschworenen Verschmelzung von Körper und Netz.
Ein Zwischenschritt, weil das Netz dem Körper mit der Brille nur näher kommt, aber nicht in ihn eindringt. Das ist sehr weit entfernt von der Welt, die Cory Doctorow in „Backup“ (2003) aufzeigt, wo das menschliche Bewusstsein, auch Geist oder Seele genannt, jederzeit abgespeichert und in einen neuen Körper transformiert werden kann.
Der weite Weg zur Körper-Netz-Symbiose
Unzählige Fragen sind bislang unbeantwortet, wenn es um die Körper-Netz-Symbiose geht: biologische, ethische, technische, datenschutzrechtliche; einer Verschmelzung sind wir etwa so nahe wie der menschlichen Unsterblichkeit.
Dabei dringt vernetzte Technologie schon länger in den Körper des Menschen vor. Hörgeräten und Herzschrittmachern sind Implantate im Auge und Gehirn sowie bioelektronische Prothesen und Instrumente gefolgt. Cyborgs, die Mensch-Maschinen-Wesen aus Vorstellungswelten, die vor 25 Jahren populär wurden, sind wir dennoch nicht geworden und so wird es auch noch eine Zeit lang bleiben.
Auch umgekehrt kommt der Mensch im Netz körperlich kaum voran. Überwiegend Spielkonsolen ist es vorbehalten, von Menschen erzeugte Bewegungen zu erfassen und auf den Bildschirm zu übertragen. Im Internet selbst tummeln sich seit Jahren die immergleichen Avatare und die auch fast immer in 2D – das Jahr 2006 und der Ansturm auf Second Life erscheinen im Rückblick als Höhepunkt des Pixel-Körpers.
Wo uns William Gibson einst eine mit Datenhandschuhen erfahrbare, faszinierend-virtuelle Welt aufzeichnete, an der menschliche Körper zumindest partiell teilhaben konnten, strahlt heute den meisten Nutzern das Internet aus gut 30 Zentimetern Entfernung entgegen. Ein Anstupser auf Facebook oder Masturbation beim Seitenbesuch von Youporn stellen schon das Höchstmaß an Körperlichkeit dar.
Zwischenstufen und glatte Oberflächen
Für Marcus Hammerschmitt, Schriftsteller und Science-Fiction-Autor, ist die dreidimensionale Darstellung von Daten und Körpern im Netz ein kulturhistorischer Ausdruck der Science-Fiction-Ära des Cyberpunk. Schon Gibson habe von einer "konsensuellen Halluzination" gesprochen. Stattdessen präge das Netz der Gegenwart die Körper anders, indirekter. "Eine Cyborgisierung ist derzeit gar nicht nötig, da die Wahrnehmung medial derart vorgeprägt ist, dass viele Körper sich nach dem Netz richten", meint Hammerschmitt.
Sport-, Beauty- und Pornoseiten im Netz hätten durchaus einen prägenden Einfluss auf die Körper der Betrachter. Der "Körperkult" sei kaum aufzuhalten und dabei spiele das Internet eine, wenn auch nicht die entscheidende Rolle. "Heidi Klum ist in diesem Sinne ein Borg", sagt der Schriftsteller in Anspielung auf die lebenden Assimilationsmaschinen in „Star Trek“. Er verweist darauf, dass es sich um einen "schleichenden Prozess" handele, "der über Sprache und Bewusstsein statt über Implantate" vor sich gehe.
Karin Harrasser, derzeit Professorin für Techniktheorie und -geschichte an der HBK Braunschweig, sieht das Netz als "Haut zwischen dem Körper und der Datenwelt". Sie beobachtet derzeit zwei Tendenzen zur Verbindung von Körpern und Netzen. Zum einen häufe sich online die Veröffentlichung von Körperdaten. Zum anderen finde sich der Körper heute vor allem dank Konsumwelten wie Facebook schneller im Internet wieder als früher. Dies gehe mit den einfachen Möglichkeiten einher, Fotos hochzuladen und zu teilen.
Fotos und die "Cloud"
Auf die Vorstellung eines von Technologie zerstörten oder veränderten Körpers, dem Cyborg der Cyberpunks, sei in der Science Fiction von heute die Reflexion eines datendurchherrschten Lebens getreten, sagt Harrasser. Vor allem im Film beobachte sie eine "technische Einwanderung", die sich derzeit gerne in durchscheinenden, glatten Oberflächen bemerkbar mache, auf die Daten (Karten, Fotos, Schrift) projiziert werden.
Marcus Hammerschmitt sieht noch einen Aspekt auf dem Weg zur Körper-Netz-Symbiose: "Die Cloud, das ständige Sprachrauschen, Twitter-Streams und Dauer-Updates", allein das ständige Online-Sein habe Auswirkungen auf den Körper des Netznutzers. Er will das aber nicht kulturpessimistisch verstanden wissen. Deutlich unbehaglicher fühle er sich angesichts der in Umfragen erhobenen 40 Prozent der "netzmisstrauischen Deutschen".
Googles Datenbrille mag noch in diesem Jahr kommen oder auch nicht. Sie kann ein Zwischenschritt sein auf den komplizierten Wegen, die zwischen Körpern und Netzen verlaufen. Ein Grund zum Hype – ähnlich wie bei Smartphones oder Tablet-Computern – ist sie ebensowenig wie ein Anlass zur Furcht vor noch mehr Technologie oder weiteren Daten. Wieder einmal wird ein neues Werkzeug entwickelt. Mehr nicht. Die Menschheit entscheidet, was sie daraus macht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja