: König ohne Land
AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER
Er lacht viel in diesen Tagen, der Mann mit den dicken Brillengläsern und dem charakteristischen Fischmund. Was wird nicht alles hineininterpretiert in dieses Lachen. Manche sehen Verzweiflung darin, andere die trotzige Vorwärtsverteidigung eines Politikers, der nichts mehr zu verlieren hat. Unbefangen betrachtet, sieht Günter Verheugen eigentlich ganz entspannt und fröhlich aus. Erstaunlich viel Sommerbräune hat der 62-Jährige in den Büroalltag hinüberretten können. Seine Anzüge wirken modischer und lässiger als früher.
Aber wer kann sich in dem Gerüchtestrudel, der den deutschen EU-Kommissar zu verschlucken droht, einen unbefangenen Blick bewahren? Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass es ein in Brüssel tätiger Politiker auf Seite eins der Bild-Zeitung schafft. Auf dem Titelfoto vom Mittwoch hält er seine lächelnde Mitarbeiterin Petra Erler im Arm. In der Bild-Zeitung vom Montag waren beide Hand in Hand in einer Einkaufsstraße im litauischen Hafenort Klaipeda zu sehen.
Die Fotos stammen aus dem August, seinem „arbeitsfreien Monat“, wie Verheugen betont. Dennoch drängt sich die „Privatsache“ in der Berichterstattung langsam, aber beharrlich in den Vordergrund. Erst im April beförderte Verheugen seine langjährige Vertraute zur Kabinettschefin. Dass der Karrieresprung über eine Gehaltsstufe hinweg der 48-Jährigen monatlich 2.500 Euro mehr beschert, wird von Journalisten inzwischen genüsslich ausgebreitet.
Der Verdacht der Günstlingswirtschaft, zunächst nur angedeutet, dann deutlich ausgesprochen in Presseberichten, ermunterte den CDU-Europaabgeordneten Herbert Reul, den Posten des Industriekommissars für die CDU zu reklamieren. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier versicherte im Gegenzug der Bild-Zeitung, sein Parteifreund Verheugen sei schon angesichts der bevorstehenden EU-Ratspräsidentschaft „als absolutes Schwergewicht in Brüssel unverzichtbar“.
Das Rätselraten um den meist recht nüchtern auftretenden Politiker begann, als er Anfang des Monats in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung dem mächtigen Brüsseler Beamtenapparat den Kampf ansagte. Offensichtlich verlor Verheugen die Geduld, weil der Rückbau bürokratischer Gesetzeshürden, den er zum wichtigsten Projekt seiner Amtszeit als Industriekommissar erklärt hatte, nicht vorankam. Sein Appell, den Paragrafendschungel zu durchforsten, verschimmelte auf den Ablagestapeln der Sachbearbeiter. Die Presse verspottete seine magere Zwischenbilanz. „Früher schrieb Verheugen Geschichte, heute schreibt er Listen mit Gesetzen, die gestrichen werden sollten, es aber nicht unbedingt werden“, ätzte die Wirtschaftswoche.
In dieser Einschätzung sind sich die Brüssler Journalisten ausnahmsweise einig: Als Erweiterungskommissar entschied der passionierte Außenpolitiker über das Schicksal ganzer Länder, hatte Macht und Ressourcen, stand im Scheinwerferlicht. Der Job des „Superkommissars“ im Team von Kommissionspräsident Barroso sei ihm als Aufstieg schmackhaft gemacht worden. Doch in Wahrheit sei sein Ressort nichts anderes als ein „Bauchladen“, die ihm übertragene Koordinierungsfunktion zum Wohle von Wirtschaft und Wachstum eine Luftnummer. Denn keiner der Kommissare aus den Bereichen Binnenmarkt, Verbraucherschutz oder Umwelt, die Verheugen für wachstumsfreundliche Gesetzgebung in Stellung bringen soll, lässt sich von einem Kollegen hineinreden. Ähnlich wie der deutsche Wirtschaftsminister sei Günter Verheugen nun ein „König ohne Land“.
Vielleicht liegt hier tatsächlich die Erklärung für Verheugens Zorn, für seine Ungeduld mit der selbstgefälligen Brüsseler Beamtenelite. Doch die Kriegserklärung erfolgte nicht in einem Stück, sondern auf Raten. Zunächst machte er seinem Ärger im kleinen Kreis Luft, dann schrieb er in seinem Buch „Europa in der Krise“ darüber, das vergangenen Herbst herauskam. Schließlich vertraute er der Welt Ende Juli in einem Interview an, er habe gerade die Gelbe Karte gezückt, weil die Abteilungen kaum Vorschläge lieferten. Mit der Beseitigung bürokratischer Hürden habe die neue Kommission eben eine „Kulturrevolution“ angezettelt.
Nach der Sommerpause scheint sich Verheugen wie ein Schiedsrichter gefühlt zu haben, in dessen Spiel trotz Gelber Karte munter weitergefoult wird. Er setzte also eins drauf, in der Süddeutschen diesmal. „Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat den Beamten eine solche Machtfülle eingebracht, dass es inzwischen die wichtigste politische Aufgabe der 25 Kommissare ist, den Apparat zu kontrollieren.“ Jeder Kommissar werde als „zeitweiliger Hausbesetzer“ betrachtet, dessen politische Vorgaben man ignorieren könne. Und, so plastisch wie polemisch: „Mein eigener Stab sagt, 80 bis 90 Prozent seiner Arbeitszeit dient der internen Koordinierung. Man könnte überspitzt sagen, wir verbringen einen Großteil unserer Zeit damit, Probleme zu lösen, die es nicht gäbe, wenn es uns nicht gäbe.“
Eine Steilvorlage für alle, die den Deutschen gern aus Brüssel verschwinden sähen oder sich durch die Bürokratieschelte persönlich angesprochen fühlten. „Nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zur Verfassung hat Verheugen der europäischen Sache einen weiteren Schlag zugefügt“, schimpfte Jean-Louis Blanc, Präsident der Gewerkschaft der Kommissionsbeamten. „Wenn der Chef eines Unternehmens wie Coca-Cola für Umsatzrückgänge seine Arbeiter verantwortlich machen würde, müsste er sich sofort entschuldigen oder zurücktreten“, sagte Blanc. Auch mehrere Kommissarkollegen wandten sich gegen ihn. Viele fragten, wieso Verheugen diese Erkenntnis nach sieben Jahren Tätigkeit als EU-Kommissar schockartig überfallen habe und wer eigentlich die politische Verantwortung für das EU-Räderwerk trage: Lenkt der Kommissar seine Beamten oder läuft es etwa umgekehrt?
Warum liefert ein mit allen Wassern gewaschener Profi des Politbetriebs seinen Gegnern so viel Munition? Ist er amtsmüde? Da wäre ein Rückzug aus privaten Gründen doch wesentlich eleganter. Schielt der leidenschaftliche Außenpolitiker auf den Job von Javier Solana, dem ebenfalls Amtsmüdigkeit angedichtet wird? Nach einem handfesten Skandal würden seine Chancen auf das Amt sicher nicht größer. Glaubte er vielleicht, sich in seiner Stellung aufrüttelnde Ehrlichkeit leisten zu können und unterschätzte das Beharrungsvermögen seiner Gegner? Oder ist einfach eine Panne bei den Zitaten passiert, weil sein Pressesprecher gerade gekündigt und der neue seinen Job noch nicht angetreten hat? Angesichts der Fülle scharfer Äußerungen in dem Interview mag man auch daran nicht glauben.
Schon einmal hatte Günter Verheugen in Brüssel für ähnliches Rätselraten und Kopfschütteln gesorgt. Das war vor ziemlich genau sechs Jahren, im September 2000. Damals regte er in einem Interview an, in Deutschland ein Referendum über die Ost-Erweiterung abzuhalten, um nicht „hinter dem Rücken der Bevölkerung“ Politik zu machen. Selbst enge Freunde vermochten damals nicht zu sagen, ob Kalkül, eine falsche Lageeinschätzung oder eine Kommunikationspanne dahintersteckte. Er selbst tat das Interview später als „seinen jährlichen Flop“ ab.
Diesen Ausweg wählt er dieses Mal nicht. Stattdessen beteuert er, es gehe ihm um die Sache. Bis zu 150 Milliarden Euro Bürokratiekosten könnten den Betrieben erspart werden, Geld, das dringend für Innovation und Investitionen gebraucht werde. „Was ich getan habe, war nicht diplomatisch, das weiß ich wohl. Als Politiker, der mit mehreren Ländern gleichzeitig den schwierigsten Beitrittsvertrag der Geschichte ausgehandelt hat, weiß ich, was diplomatische Fähigkeiten sind. Wenn ich mich dafür entschied, die Samthandschuhe auszuziehen, können Sie davon ausgehen, dass ich meine Gründe hatte“, sagte Verheugen dem EUobserver.
Kenner der Materie bezweifeln allerdings, dass es wirklich so viele überflüssige und innovationsbehindernde Vorschriften aus Brüssel gibt, die nun mit einem Federstrich einfach wegfallen könnten. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Verpackungsverordnung, die von Werbestrategen der Kommission zum Symbol schlechthin für überflüssige Vorschriften hochstilisiert worden war. Was geht es schließlich Brüssel an, wie viel Gramm Kaffee in die Dose passen? Sehr viel, antworten inzwischen alarmierte Verbraucherschützer. Denn die Hersteller versuchten, gleich große Verpackungen mit weniger Inhalt zum gleichen Preis auf den Markt zu bringen und dadurch unbemerkt Preiserhöhungen durchzusetzen.
„Die Politiker denken immer, man brauche alle Gesetze nur auf Überflüssiges abzuklopfen und den Müll zusammenzukehren, der dabei unten herausfällt“, seufzt ein Jurist aus einer von Verheugens Generaldirektionen. Die Enttäuschung sei dann groß über das magere Ergebnis. „So viel Blödsinn wird hier nicht produziert.“ Es helfe auch nicht, den Druck auf den Apparat immer weiter zu erhöhen. „Viele Beamten wissen nicht mehr, was sie noch tun sollen.“
So sanftmütig reagieren nicht alle. Die Frage, ob Verheugen in die Fußstapfen von Edith Cresson treten wolle, wird in den Fluren der gescholtenen Beamtenschaft genüsslich gedreht und gewendet. Die französische Kommissarin hatte einem befreundeten Zahnarzt lukrative Aufträge zugeschanzt und damit 1999 den Sturz der gesamten Kommission unter Jacques Santer provoziert.
Für den erfolgsverliebten Kommissionspräsidenten Barroso wäre ein solches Ende ein veritabler Albtraum. Es liegt in seinem ganz persönlichen Interesse, jeden Skandalverdacht von der Kommission abzuwenden. Vielleicht hat er sich deshalb am Mittwoch dazu durchgerungen, eine Vertrauenserklärung für Günter Verheugen abzugeben. Nach seinen Informationen, so der Kommissionspräsident, seien bei der Berufung von Petra Erler alle Regeln eingehalten worden.
Ob Günter Verheugen diese Treuebekundung erleichtert, gelassen oder mit Kennermine als geschickten taktischen Zug eines gewieften Politikers zur Kenntnis nahm, ist nicht bekannt. In einem Leserbrief an die FAZ wies er die „erhobene Verdächtigung der Günstlingswirtschaft als vollkommen abwegig zurück.“ Fast prophetisch klingt ein anderer Satz in dem Schreiben: „Das Projekt der Rechtsvereinfachung in der EU ist langfristig angelegt, und abgerechnet wird zum Schluss.“