Kochen: Die wunderbare Welt des Grünkohls
Winterzeit ist Grünkohlzeit, denn erst nach dem ersten Frost schmeckt der Kohl so richtig lecker. Er will aber auch richtig zubereitet sein: mit Pinkel, Kassler und Kartoffeln. Und am besten schmeckt der Brassica oleracea, wenn man ihn mehrere Tage hintereinander isst.
Kohl und Pinkel nennt man in der Wesermarsch das, was anderswo "Grünkohl mit Kassler", "Kohl und Speck" oder auch "Grünkohl mit Brühwurst" heißt. In Bremen, wo die Betriebe und Behörden im Winter "Kohl und Pinkel"-Ausflüge aufs Land unternehmen, schmeißt man alle möglichen Fleischsorten in den Grünkohl, den man hier auch "Braunen Kohl" nennt, dazu kommen dann noch viel Schmalz, kurz angebratene Zwiebeln und halbierte, kurz gekochte Kartoffeln sowie etliche Pinkel- und Brühwürste.
Um genaue (Gewichts-)Angaben für die Zubereitung von "Kohl und Pinkel" zu geben, würde es hier inzwischen reichen, auf www.kochmeister.com zu verweisen, wo man ein genau abgewogenes Rezept für "Kohl mit Pinkel 'Bremer Art'" findet - zugeschnitten auf vier Personen. Allerdings schmeckt dieses Gericht nach jedem Tag, an dem man es wieder aufwärmt, besser, so dass man die im Kochmeister-Rezept angegebenen Mengen, wenn man zu viert ist / isst, eigentlich mindestens mal drei nehmen sollte, um drei Tage lang "Kohl und Pinkel" essen zu können.
Dabei ist zu beachten, dass der Grünkohl beim Kochen zusammenfällt. Erst kriegt man nicht alles in den Topf, der sehr groß sein muss - und dann ist es vielleicht am Ende sogar zu wenig. Und tiefgefrorenen Grünkohl zu nehmen, sollte man tunlichst vermeiden. Er schmeckt längst nicht so gut wie frischer, der in Zwei-Kilogramm-Plastikbeuteln angeboten wird.
Brassica oleracea convar. acephala var. sabellica L., so der linnéische Name des Kohls, gehört zur Familie der Kreuzblütengewächse (Brassicaceae). Es ist ein Wintergemüse und eine Zuchtform des Kohls (Brassica oleracea). Wintergemüse - das heißt in diesem Fall, man sollte den ersten Frost abwarten, bevor man die Grünkohlstrünke vom Feld erntet, was neuerdings oft erst im Januar oder Februar der Fall ist.
Und das ist dann auch die Zeit der Bremer "Kohl-und-Pinkel"-Betriebsausflüge, auf denen sich die Teilnehmer alberne bunte Plastikeierbecher an roten Bändern um den Hals hängen, aus denen sie unterwegs in regelmäßigen Abständen Korn bzw. Doppelkorn trinken - auf Kosten des Chefs und der Vorgesetzten, die sich deswegen später in einem Tanzsaal - in gehobener Stimmung, wie sie sagen - regelmäßig dazu hinreißen lassen, den weiblichen Mitarbeitern an den Arsch zu gehen, wie diese das nennen.
In Bremen, Braunschweig, Hannover, Magdeburg wird der Grünkohl übrigens auch "Braunkohl", "Hochkohl" oder "Krauskohl" genannt. Letzteres trifft es ziemlich gut, denn der Grünkohl besteht nicht wie der Rot- und Weißkohl aus "Köpfen", sondern aus geschrumpelten einzelnen Blättern, die aus der Mitte der Pflanze herauswachsen. In der Schweiz ist er unter dem Namen "Federkohl" bekannt, in Ostwestfalen als "Lippische Palme", weiter nördlich als "Oldenburger" oder "Friesische Palme". In den Kochtopf kommen die Kohlblätter ohne das harte Blattgerippe, man muss sie also vorher auseinanderreissen.
Nun zur Bremer Besonderheit - der "Pinkel"-Wurst, an der man ebenfalls nicht sparen sollte. Ihren Namen hat sie von einem bestimmten Teil des Rinderdarms, in dessen Wand folgende Zutaten eingefüllt werden: Nierenfett, grüner Speck, Rinderfett und viel Weizengrütze, dazu Salz, Pfeffer, Nelken und Piment. Die Pinkel-Wurst kann man aufschneiden und den Inhalt in den Topf mit dem Kohl geben. Nicht so die Koch-, Bregen-, Brühwürste oder Schinkenpfefferle, die man ebenfalls mitkocht, jedoch im Ganzen. Sie sind wie die Pinkel-Wurst regional unterschiedlich gefüllt, was sich auch in ihrem Namen niederschlägt. Man muss also, je nachdem wo man gerade ist / isst, gucken, was es im Angebot gibt.
In Berlin nehmen viele Krakauer, Mettenden oder polnische Würste. Am leckersten sind aber geräucherte Brüh- oder Schinkenwürste, was genau genommen jedoch nur eine Sammelbezeichnung für Wurstarten ist, die bei der Herstellung durch Brühen, Braten oder auf andere Weise hitzebehandelt wurden. Ihr Inhalt besteht oder sollte im Wesentlichen bestehen aus magerem Fleisch und Speck sowie aus Gewürzen und Kochsalz.
Schließlich braucht man noch ein wirklich ordentliches Stück "Kassler" - gepökeltes und leicht geräuchertes Fleisch vom Schwein (Nacken, Bauch oder Schulter), das in dicke Scheiben geschnitten ebenfalls unter den Kohl gebracht wird. Die Bezeichnung Kassler hat nichts mit der Stadt Kassel zu tun, sondern bezieht sich auf einen Einzelerfinder - den Berliner Schlachtermeister Cassel.
So wie auch das Märchen von den "Bremer Stadtmusikanten" nichts mit Bremen zu tun hat, sondern von hessischen Auswanderern aus dem "Bremer Grund" stammt. Diese armen Menschen mussten in Bremen manchmal monatelang auf eine günstige Schiffspassage warten, wobei die Bremer sie gehörig ausnahmen: Man brachte sie in leer geräumten Schweineställen unter und nahm ihnen für jede noch so kleine "Unterstützung" enorm viel Geld ab. Schließlich klaute man ihnen auch noch das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten.
Zurück zum Kohl & Pinkel: Es fehlen noch einige fingerdicke Scheiben Bauchspeck sowie Gänseschmalz. Mit letzterem kann man erst einmal die klein geschnittenen Zwiebeln andünsten, bevor man beides zusammen in den Topf mit dem inzwischen auf kleiner Flamme kochenden Kohl gibt. Der Wirt der "Blauen Maus" in Eggolsheim bei Bamberg meint: "Auf Schmalz und Hafergrütze kommt es an" - beim "Kohl und Pinkel"-Gericht, das er "Event" nennt. Denn "ohne die Grütze bleibt der Kohl wässrig. Aber erst zum Schluss reintun (etwa 10 Minuten mitkochen) sonst brennt der Kohl zu leicht an." Für die Bremer Variante des Gerichts brauchen wir allerdings keine Hafergrütze, denn die aufgeschnittenen zwei bis vier Pinkel-Würste erfüllen mit der in ihnen enthaltenen Weizengrütze bereits den selben Zweck. Aber der Tipp vom "Blauen Maus"-Wirt, sie erst nach einer ganzen Weile aufzuschneiden und dann den Inhalt unter den Kohl zu mischen, damit der nicht anbrennt, scheint ganz brauchbar zu sein. Schließlich werden auch noch die angekochten und halbierten Kartoffeln dem Kohl beigegeben. Und dann muss das Ganze zwischen anderthalb Stunden und einem halben Tag vor sich hinbrutzeln - ohne Deckel auf dem Topf, wobei man das Ganze immer mal wieder um- bzw. aufrührt. Die notwendige Kochdauer bemisst sich nach dem Drängeln der Gäste, dem Geruch beim Umrühren und dem Geschmack beim vorsichtigen Probieren, optisch geben einem vielleicht auch die Farben der Kassler-Scheiben Gewissheit. Durch Umschichten von oben nach unten lässt sich die eine oder andere Zutat be- bzw. entschleunigt genießbar machen.
Der fertige "Kohl und Pinkel"-Eintopf ist ein schweres Gericht, man braucht deswegen zwischendurch beim Essen immer mal wieder einen erleichternden Schnaps. Neuerdings wird dieses Essen zur Kalorienreduktion mit immer weniger Zutaten gekocht - für den modernen Menschen (am Computer) sei es zu fett, so wird argumentiert. Außerdem wird daran kritisiert, dass seine Zubereitung zu simpel, zu bäuerlich und somit eigentlich keine Kunst sei.
Dazu ist zu sagen: Gegenüber der Kunst - allen Kunstwerken - hat das Kochen, die Speisezubereitung, schon mal den Vorteil, dass das Endergebnis gegessen wird und damit weg ist, also nicht mehr zu anderen Zwecken benutzt werden kann. Anders gesagt: Eine Speise wird gegessen, verdaut und die Reste ausgeschissen, ein Bild dagegen, sagen wir ein Tafelbild, kann immerhin noch zum Fetisch werden oder zu einem Spekulationsobjekt oder was auch immer. Demgegenüber ist das Essen im Vorteil: Es geht dabei einzig um die Kunst-Produktion. Ein alter Streit in der Philosophie geht ja darum: was ist wichtiger, der Weg oder das Ziel? Beim Kochen ist die Sache ganz einfach: Es wird aufgegessen, das ist eine ganz direkte Rezeption. Für das Essen einer Speise braucht deswegen auch niemand eine Rezeptionsanleitung, was heißt, dass sich die Wirkung eines Gerichts jedem sofort erschließt. Wenn man einen giftigen oder ungenießbaren Pilz isst, fällt man um oder es wird einem schlecht, ein ungenießbares Bild dagegen wirkt nicht so eindeutig auf den Betrachter. Für eine Suppe braucht man keine Rezeptionsanleitung, entweder sie schmeckt einem, oder sie schmeckt einem nicht. Das ist der Grund, warum jede Kunstgattung vom Kochen etwas lernen kann.
Speziell für die Zubereitung von "Kohl und Pinkel" gilt - wegen seiner hohen Fleisch- und Fett-Anteile: Dass man die getöteten Tiere, von denen sie stammen, bei der Zubereitung im Topf wieder auferstehen lassen kann: Bei der Zubereitung entscheidet sich, ob man ein Koch oder ein Mörder ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!