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Archiv-Artikel

Knochen, Regeln und Mikrotöne

Enno Poppe ist einer der gefragtesten jungen Komponisten der Neuen Musik. Seine Stücke heißen „Obst“ oder „Tier“. In ihren Experimenten mit Klangfarben und Tonhöhen ist die Musik komplex, ohne die Kommunikation mit den Hörern zu missachten

VON TIM CASPAR BOEHME

Enno Poppe hat keine Künstlerallüren. Als einer der gefragtesten und interessantesten Komponisten seiner Generation ist der im Jahr 1969 im Sauerland geborene Wahlberliner erfreulich gelassen. Er scheint ganz auf seine Sache konzentriert, der er unbeirrt nachgeht, wobei er sich seiner Fähigkeiten durchaus bewusst ist. Schließlich wollte er schon als Kind Komponist werden, so wie andere halt Astronaut werden wollten.

„Mein Wunsch, Komponist zu werden, bestand schon, bevor ich überhaupt die erste Note hingeschrieben habe“, erinnert er sich. Mit zehn Jahren begann er zu komponieren, und nur wenige Jahre später wurde er als einer der ersten Preisträger des Wettbewerbs „Jugend komponiert“ ausgezeichnet. Als er an der Berliner Hochschule der Künste zu studieren begann, hatte Poppe schon „stapel- und kiloweise Musik geschrieben“. Doch dann zog er sich erst einmal zurück und begann ganz von vorn. Er komponierte sehr reduziert und sehr wenig, um sich von sämtlichen Einflüssen und Vorbildern zu befreien und etwas Eigenständiges zu entwickeln: „Ich war sehr vorsichtig beim Komponieren.“

Seine Lehrer spielten für ihn keine große Rolle, auch wenn der Komponist Friedrich Goldmann, bei dem Poppe studierte, „ein wirklicher Freund“ wurde. Wenn er sich an der Arbeit eines Komponisten orientierte, dann an der des Amerikaners Morton Feldman. Die stark reduzierte Herangehensweise Feldmans, die Konzentration auf wenige Elemente faszinierten Poppe. „Das Tolle ist, dass die Reduktion bei Feldman eine Komplexität erzeugt, gerade weil man so viel erkennen kann.“ Auch in Poppes Musik sollen die Hörer möglichst viel erkennen können. Kommunikation mit dem Publikum ist ihm wichtig. Obwohl es in seinen Kompositionen weit lebhafter zugeht als bei Feldman, der oft mit Wiederholungen arbeitet und bei oberflächlichem Hören für einen Minimalisten gehalten werden könnte, achtet Poppe darauf, das Material, mit dem er arbeitet, übersichtlich zu halten. Komplexität hat auch bei ihm mit Reduktion zu tun.

Poppe entwickelt für seine Kompositionsideen daher Regeln, mit denen er den Möglichkeitsspielraum seiner Einfälle auslotet. Er geht wie Feldman von kleinen musikalischen „Zellen“ aus und entwickelt für sie bestimmte Verfahren. Diese Verfahren sind jedoch keine bloßen Techniken, die er seinen Ideen überstülpt, oder Regeln, denen er sklavisch folgen würde. Er buchstabiert vielmehr aus, was in den Ideen steckt, was zu ihnen passt oder auch nicht. „Die Erfindung einer Struktur ist schon etwas Kreatives“, unterstreicht er. „Das ist nichts, das außerhalb der Komposition steht.“ Um Regeln für sein Komponieren zu entwickeln, beschäftigte er sich eine Weile mit biologischen Wachstumsprozessen und den mathematischen Verfahren zu ihrer Beschreibung. Er wollte herausfinden, wie sich seine Zellen verketten lassen und wie weit er mit dieser „Syntax“ kommt.

So entstand etwa ein Zyklus von Ensemblestücken mit prägnanten Titeln: „Holz“, „Knochen“, „Öl“. Beim Hören der Kompositionen lassen sich Eigenschaften der namensgebenden Dinge heraushören. In „Knochen“ zum Beispiel dominieren trockene Schlaginstrumente, während „Öl“ träge dahinzufließen scheint. Vor allem aber hat Poppe eine Vorliebe für kurze, einprägsame Titel und für das Knappe überhaupt. Sein erstes Werk für Orchester nannte er „Obst“, ein Streichquartett hört auf den Namen „Tier“. Dass dem freien Assoziieren damit Tür und Tor geöffnet sind, nimmt er in Kauf. „Nach Aufführungen des Stücks ‚Tier‘ haben mir Leute erzählt, dass sie sich vorgestellt haben, wie da ein kleiner Hund herumläuft. Das fand ich lustig.“

Dass mit den Titeln seiner Werke keine eindeutige Bedeutung ausgedrückt wird, sei „ohnehin klar“, so Poppe. „Musik kann nicht Öl bedeuten. Es gibt nur etwas, worüber man vielleicht nachdenken kann.“ Wichtig ist ihm auch, dass er bei allem Konstruktionsaufwand, den er in seiner Musik betreibt, dem Sinnlichen und Unmittelbaren des Klangs eine sehr große Bedeutung beimisst: „Wenn ich über meine Stücke spreche, kommt es sehr oft so rüber, als sei alles ganz klar geplant, als hätte ich alles unter Kontrolle und als sei alles eine ganz technische Angelegenheit.“ Das Sinnliche sei ohnehin da, und was er gern hören wolle, habe mit Strukturfragen „gar nichts zu tun“.

Ein entscheidendes Element der Klänge, die Poppe in seiner Musik hörbar machen möchte, sind Mikrotöne: Frequenzen, die kleiner sind als Halbtöne und so von der üblichen wohltemperierten Stimmung abweichen. In seinem Stück „Rad“ für zwei Keyboards verwendet er statt Halbtönen Zweiunddreißigsteltöne. Die Tonunterschiede sind so gering, dass man kaum noch einen Unterschied hört. Die Spieler benutzen Klavierklänge und spielen auf gewöhnlichen schwarzen und weißen Tasten. Doch ihre Keyboards sind so programmiert, dass sie völlig andere Töne spielen als auf einem normalen Klavier. Die Klangfarben, die dadurch entstehen, erinnern bisweilen an die fremdartig metallischen Schwirrklänge in Stockhausens „Elektronischen Studien“. Statt Klaviermusik meint man zu hören, wie Weltraumschrott gegen Meteoriten prallt.

Auf den häufig beklagten Nischenstatus der Neuen Musik angesprochen, macht sich Poppe keine großen Sorgen. Auf Festivals hat er insbesondere in diesem Jahr durchweg gute Erfahrungen mit ausverkauften Konzerten und regem Interesse des Publikums an seiner Musik gemacht. Außerhalb des Festivalbetriebs könne es schon anders aussehen, räumt er ein. Hier sieht er die Neue Musik „zwischen zwei Konservatismen eingekeilt, die nicht zueinander passen. Das ist zum einen das bildungsbürgerliche Konzertpublikum, das Menschen im schwarzen Anzug erwartet, die auf der Bühne auftreten, und man muss stillsitzen. Zum anderen sind da die Leute, die erwarten, dass man während der Musik wippen muss und dazu seine Bionade trinkt.“

Poppe, der auch als Dirigent des ensemble mosaik arbeitet, lebt gern in Berlin. „Es gibt hier tolle Konzerte und tolle Musiker.“ Von seinen Kompositionsaufträgen, Preisen und Stipendien kann er gut leben, „viel besser, als ich erwartet hätte“. Meistens kommen die großen Aufträge jedoch aus anderen Städten als Berlin, „weil dort mehr Geld ist“.

Heute um 20 Uhr wird im Ballhaus Naunynstraße Enno Poppes Komposition „Abend“ für vier Männerstimmen und vier Posaunen uraufgeführt