Knappes Programm, große Wirkung: Piraten auf dem Weg ins EU-Parlament
Nach jüngsten Umfragen könnte die Piratenpartei in Schweden bei der Europawahl die drittgrößte Kraft stellen. Und trotz knappem Programm ins EU-Parlament einziehen
STOCKHOLM taz | Ein Dutzend junger Leute stehen in der südschwedischen Kleinstadt Eksjö auf dem Marktplatz. "Freie Kommunikation in einer offenen Gesellschaft" steht auf einem ihrer Transparente. Die "Piratenpartei" wirbt um Stimmen für die Europawahl. "Meine bekommen sie", sagt eine Frau mit Kinderwagen: "Endlich eine Partei, die sich um das kümmert, was unsere Jugend bewegt."
Die "Piratenpartei" wird im nächsten EU-Parlament vertreten sein. Darauf deuten alle Umfragen hin. Bei einigen rangiert sie mit über 8 Prozent hinter Sozialdemokraten und Konservativen sogar als drittstärkste Kraft aller schwedischen Parteien. Bei den letzten nationalen Parlamentswahlen 2006 kam sie gerade einmal auf 0,6 Prozent. Und führte ein Schattendasein, bis das Parlament in Stockholm im vergangenen Jahr erst ein Gesetz zur Überwachung und Speicherung des E-Mail-Verkehrs durch den Geheimdienst und dann gleich noch eines zur Registrierung der Internetverbindungsdaten vorlegte.
Die InternetuserInnen verstanden dies als Angriffe auf ihre Privatsphäre und protestierten heftig. Die "Piratenpartei" war der einzige Verein, der sich ganz klar positionierte. Den wirklichen Durchbruch schaffte sie dann vor sechs Wochen, als die Macher der Internettauschbörse "Pirate Bay" von einem Stockholmer Gericht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurden. "Das ist eine Kriegserklärung des Establishments und der Politik gegen eine ganze Generation", erklärte damals Rickard Falkvinge, Vorsitzender der "Piratenpartei". Binnen weniger Stunden gewann die Partei Tausende neuer Mitglieder, und Meinungsumfragen signalisierten erstmals die Möglichkeit, ins EU-Parlament einzuziehen. "Die Schlacht um unser Privatleben wird in Brüssel geschlagen", sagt Christian Engström, IT-Techniker und Spitzenmann auf der EU-Wahlliste (taz vom 6. Mai).
Die etablierten Parteien hätten die Bedeutung der Netzpolitik völlig unterschätzt, analysierte die konservative Tageszeitung Svenska Dagbladet. Dies zeige die Tatsache, dass die "Piratenpartei" in der Gruppe der bis zu 30-jährigen das größte WählerInnenpotenzial erreiche: "Man hat nicht verstanden, in welchem Umfang viele nun einen Großteil ihres Lebens im Internet verbringen und wie sehr deshalb die Überwachung und Kontrolle als Kränkung der Privatsphäre angesehen wird."
Ihre WählerInnen scheint nicht zu stören, dass die "Piratenpartei" neben dem Kampf für die Bürgerintegrität nur eine begrenzte Programmatik hat. Klimapolitik kommt dabei ebenso wenig vor wie die EU-Arbeitsmarkt- oder Flüchtlingspolitik. Schriftsteller Lars Gustafsson scheint nicht zu stören, dass die "Piraten" für freies Filesharing und ein lockeres Copyright eintreten. Er werde für die "Piratenpartei" stimmen, teilte der 73-Jährige in seinem Blog mit. Es sei wichtig, dass intelligente Netzliberale im EU-Parlament die richtigen Fragen stellten. Und nicht Politiker, die glaubten, wenn man aufs Wasser einprügele, könne man eine Überschwemmung stoppen. REINHARD WOLFF
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