Knapp 50 Jahre nach der Ermordung von sieben Juden steht ab heute in Versailles der erste Franzose wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor Gericht. Das Verfahren gegen Paul Touvier wird alte Wunden aufreißen. Aus Paris Dorothea Hahn

Spätes Rendezvous mit der Geschichte

Die Männer, die im Morgengrauen des 28. Juni 1944 in der Pariser Rue Solferino aus den drei schwarzen Militärfahrzeugen stiegen, wiesen sich gegenüber dem Concierge als Angehörige der Miliz von Vichy aus. Minuten später erschossen sie den Staatssekretär für Information und überzeugten Nazi-Kollaborateur, Philippe Henriot. Zum Zeitpunkt des Attentats, für das die Résistance, die französische Widerstandsbewegung, die Verantwortung übernahm, waren amerikanische und britische Truppen bereits 22 Tage in Frankreich. Aber über „Radio Paris“ verbreitete Henriot immer noch seine Verteidigung der „Nationalen Revolution“, die das Vichy-Regime im Süden Frankreichs mit Hitler- Deutschland verband.

In der folgenden Nacht holten echte Milizionäre in Lyon acht Männer aus ihren Wohnungen ab. Den einzigen Nicht-Juden unter ihnen sortierte der Chef des Kommandos, der 30jährige Paul Touvier, aus. Anschließend transportierten die Milizionäre die verbliebenen sieben Geiseln in ein nahegelegenes Dorf. Um 5 Uhr früh am Morgen des 29. Juni 1944 wurden Emile Zeizig, Claude Ben Zimra, Siegfried Prock, Léon Glaeser, Louis Krzykowski, Maurice Schisselmann und ein namenlos Gebliebener an der Friedhofsmauer von Rillieux-la-Pape erschossen.

Knapp 50 Jahre danach steht heute Paul Touvier vor einem Gericht. Dem Chef des Hinrichtungskommandos und damaligen Informationsbeauftragten der Lyoner Miliz werden „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zur Last gelegt – die im Gegensatz zu anderen Verbrechen nicht verjähren können. Bisher haben französische Gerichte nur einen Menschen aufgrund dieses Sondergesetzes verurteilt. Das war 1987 der deutsche SS-Mann Klaus Barbie, bekannt als „Schlächter von Lyon“. Der heute 79jährige krebskranke Touvier, der in den 40er Jahren in Lyon mit Barbie zusammenarbeitete, ist der erste Franzose, der wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor Gericht steht.

Touvier bestreitet die sieben Morde nicht, rechnet aber in einer makabren Arithmetik vor, er habe damit 93 Menschen das Leben gerettet. Er behauptet, der SS-Obersturmbannführer von Lyon, Werner Knab, habe verlangt, daß als Vergeltung für den Mord an Henriot 100 Juden exekutiert würden. Zusammen mit seinem französischen Vorgesetzten will Touvier diese Zahl eigenmächtig reduziert haben. Beweise für diese Behauptung gibt es nicht. Anwälte und Angehörige der Opfer vermuten, daß Touvier die Morde ohne irgend einen deutschen Auftrag begangen hat (s. Interview).

Zweimal, 1946 und 1947, ist Touvier in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden – wegen Verrat und wegen Spionage für den Feind. Zu dem Zeitpunkt war er bereits untergetaucht. Daß er eines Tages als Mittäter der „Endlösung“ vor Gericht kommen würde, hätte sich in jenen Nachkriegsjahren niemand ausmalen können.

Touvier wuchs im rechtskatholischen Milieu auf. Schon in den 30er Jahren schloß er sich der „Action Française“ an, die für Frankreich, aber gegen die Republik war, die die Volksfrontregierung von 1936 möglich gemacht hatte. Das Motto „Arbeit, Familie, Vaterland“ galt in Touviers Umfeld lange bevor Marschall Philippe Pétain es in Vichy zum Leitmotiv seines „Staates Frankreich“ machte. Nach der militärischen Niederlage gegen Deutschland 1940 und der Teilung Frankreichs begann Touvier eine Karriere im Apparat von Vichy, die ihn zu der paramilitärischen Miliz führte. Seine Aufgabe bei den Schlägertrupps war es, Informationen zu sammeln. Die Brutalität der Miliz gegen Mitglieder von Résistance und jüdische Franzosen überstieg selbst die Toleranz von Vichy-Staatschef Pétain.

Mit der Befreiung verschwand Touvier im Herbst 1944 aus der Öffentlichkeit. Das Vermögen der Lyoner Miliz ließ er mitgehen. Während der vorausgegangenen vier Jahre war er bereits mit dem Verkauf von Mobiliar und Autos von deportierten Juden zu Geld gekommen. In Lyon wird erzählt, daß Touvier Plünderungen zu verantworten hat, hinter Folterungen steckte und die Mitschuld an weiteren Morden trägt. Heute kann keines dieser Verbrechen mehr geahndet werden. Und in der unmittelbaren Nachkriegszeit war Touvier kein Thema. Touvier fiel zwar Ende der 40er Jahre in die Hände der Justiz, konnte jedoch unter ungeklärten Umständen mitten im Verhör problemlos aus dem Gerichtsgebäude spazieren. Seither leistete er sich den Luxus, trotz zweier rechtskräftiger Todesurteile mitten in Frankreich ein Familienleben zu führen.

Zusammen mit seiner Lebensgefährtin und seinen zwei Kindern „versteckte“ er sich im Haus seines Vaters in Chambéry. Dort spürte ihn 1972 ein Journalist der Zeitschrift Express auf. Ihm war damit in einer mehrwöchigen Recherche gelungen, was die Polizei in vielen Jahren nicht geschafft hatte. Der Express enthüllte auch, daß Präsident Pompidou den zu Tode verurteilten und untergetauchten Touvier im Vorjahr klammheimlich begnadigt hatte. Die Mitteilung über die Begnadigung war direkt an den Sitz des Erzbischofs von Lyon gegangen.

„Wollen wir die Wunde unserer nationalen Uneinigkeit ewig bluten lassen?“ begründete Pompidou die Begnadigung, als sie dank der Veröffentlichungen zum Skandal geworden war. Doch für Touvier reichte der präsidiale Schutz nicht, ab 1972 tauchte er völlig ab. Mit seiner Familie versteckte er sich in den folgenden Jahren in rund 50 Klöstern und Kirchen. 1984 – die Vorbereitungen für ein Verfahren wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ liefen an – versuchte seine Familie, ihn mit Hilfe einer Todesanzeige in einer Regionalzeitung aus dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen. Bei seiner Verhaftung im Jahr 1989 lebte Touvier in einer Abtei in Nizza.

Monatelang ist der Gerichtssaal in Versailles für das auf fünf Wochen angesetzte Verfahren, das für Frankreich zu einem späten Rendezvous mit der eigenen Geschichte werden könnte, umgebaut worden. Der Angeklagte wird in einer schußsicheren Glaskabine sitzen. 500 Polizisten werden das Gebäude absichern. Touvier soll nicht, wie vor neun Monaten der frühere Polizeichef von Vichy, René Bousquet, erschossen werden können. Ehemalige Résistance-Angehörige, aber auch „Kollaborateure“, Historiker und Politiker sind als ZeugInnen geladen. Angesichts der anstehenden Fragen nach der Rolle der katholischen Kirche (die Touvier versteckte), des Geheimdienstes (der immer wußte, wo Touvier sich aufhielt) und der Justiz (die ein halbes Jahrhundert bis zu seinem Prozeß verstreichen ließ), ist vielen Franzosen unwohl. Der rechtsradikale französische Politiker Jean-Marie Le Pen, der gegen das Verfahren ist, weil Frankreich heute angeblich wichtigere Probleme habe, ist nur einer von ihnen.