: Kleist, der Ungar
KÜSSE UND BISSE (10) – Notizen zum Kleist-Jahr: Kleist ist ein Star in Ungarn und wird als zeitgenössischer Autor gelesen. Aber warum?
Ob er wirklich so ein Kindergesicht hatte wie auf diesem Porträt? Über das einzige verifizierte Bild schrieb Kleist selbst, dass es nicht „ehrlich“ gemalt worden sei. Wer war er also? Ein Ungar vielleicht, im übertragenen Sinne des Wortes? In meinem Heimatland hat Kleist Kultstatus. Kein deutscher Klassiker hatte eine größere Wirkung auf die zeitgenössische ungarische Literatur und Kultur als Kleist.
Außer der deutschen gibt es weltweit nur in Ungarn, Frankreich und Japan eine Kleist-Gesamtausgabe. Anfang der 1990er Jahre, als die ungarische Kleist-Renaissance begann, war Kleist plötzlich überall in meinem Leben, im Theater, in den Medien, in der Uni. Mit über 50 Neuinszenierungen innerhalb weniger Jahre war Kleist der mit Abstand meistgespielte Dramatiker Ungarns.
Kleist gehörte zu den wichtigsten Bezugspunkten der Nachwendezeit für mich. Ich liebte die Sensibilität und Verwundbarkeit dieses jungen Mannes, gepaart mit seiner anarchischen Kraft, alles infrage zu stellen und den daraus resultierenden Schwindelzustand aushalten zu wollen. Ich liebte seine Geschichten – von einem Mann, der bereit ist, alles herzugeben, um ein winziges Stück Gerechtigkeit auf der Welt wiederherzustellen („Michael Kohlhaas“), oder von einer Frau, die ihren Geliebten „aus Versehen“ verschlingt („Penthesilea“), oder von einem Kind, das bei psychisch kranken Adoptiveltern aufwächst und allmählich zum Monster wird („Der Findling“).
Warum ist Kleist so wichtig für die Ungarn? Das werde ich hierzulande immer wieder gefragt. Eigentlich müsste man ein Buch darüber schreiben. Vielleicht wurde Kleist deshalb so wichtig, weil ihn etwas beschäftigte, was auch die Substanz einer so genannten Transformationsgesellschaft ausmacht: die Unbegreiflichkeit und Unaussprechlichkeit der sich rasend schnell wandelnden Welt. Kleist als Künstler der Krise: Die Welt steht Kopf, und die Menschen versuchen sich in ihr zurechtzufinden; eine Ausgangssituation, die die Epochenschwelle um 1800 kennzeichnete, aber auch viele Ungarn der Nachwendezeit widerzuerkennen glaubten. Für Kleist war die Welt grundsätzlich unergründlich, der Mensch zur Erkenntnis unfähig und die Sprache wie ein Gefängnis – eine echt postmoderne Konstellation.
„Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten“, schrieb Kleist, „so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“ Was mag sich seine Verlobte Wilhelmine von Zenge gedacht haben, als sie diesen Brief bekam? Aus der Ehe des großen Melancholikers und der jungen preußischen Aristokratin wurde nichts. Alle anderen minutiös geplanten Lebensentwürfe des Projektemachers Kleist sind grandios gescheitert. Aber er hat Texte vollbracht, die Menschen weltweit irritieren und faszinieren, verstören und bewegen. GABRIELLA GÖNCZY
■ 2011 ist Kleist-Jahr. Am 21. November 1811 hat der Dichter sich erschossen. Wir drucken, immer am 21. eines Monats, Notizen zu Leben und Werk dieses seltsamsten deutschen Klassikers. – Gabriella Gönczy arbeitet am Collegium Hungaricum Berlin (.CHB). Über „Kleist, der Ungar“, die Veranstaltungsreihe des .CHB im Rahmen des Kleistfestivals am Maxim Gorki Theater, finden Sie mehr unter hungaricum.de