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Kleine Irrtümer, große Folgen

■ Das Romandebüt „Richtiges Leben“ von F. Hendrik Melle

Ich fischte eine Kassette aus dem Handschuhfach und schob sie ins Tapedeck. Ein altes Stück von Led Zeppelin legte sich über das Röhren der acht Zylinder. Mit geschlossenen Augen drückte ich die Lippen an den Unterarm. Es schmeckte nach dem Salz, das von der Angst zurückgeblieben war. Es schmeckte nach richtigem Leben.“ (S. 66)

Das ist es auch, „richtiges Leben“, das der Ich-Erzähler Hermann Eisenkolb in F. Hendrik Melles gleichnamigem Debütroman suchte, als er vor Jahren aus der westdeutschen Provinz nach West-Berlin kam. Was der Mittzwanziger findet, ist eine Großstadt: heiß und stickig, laut und enervierend, schnell und aggressiv. Aber auch: schrill und grell, bunt und blendend. Dem fühlt er sich gewachsen und ist es eigentlich nicht. Das merkt er, aber da ist es zu spät. Nachdem Eisenkolb seinen Job beim Rundfunk verloren, seine Freundin verlassen und seinen besten Freund auf unbestimmte Zeit verabschiedet hat, trifft er in einem Szenecafé auf Key, der alles-und-jeden kennt und etwas für Eisenkolb organisieren wird. Das ist der Anfang vom Ende. Nach einer durchgemachten Nacht wacht Eisenkolb in einem Park auf; bei sich eine Lederjacke, die ihm nicht gehört, in deren Taschen er aber Rauschgift findet. Eisenkolb muß lernen, verkündet der Klappentext reißerisch, „wie heiß Berliner Nächte sein können, wenn man nur cool bleibt“ und das gefährliche Spiel bedenkenlos mitspielt. Er wird zum Handlanger des organisierten Verbrechens; gerät zwischen die Fronten des Kokainkrieges.

Hermann Eisenkolb ist das Alter ego des 1960 in Karl-Marx-Stadt, heute bekanntlich wieder Chemnitz, geborenen F. Hendrik Melle. In der DDR hatte er sich als Lyriker der unabhängigen Szene einen Namen gemacht; seine Gedichtzeile Berührung ist nur eine Randerscheinung war 1985 titelgebend für die erste große Anthologie der Neuen Literatur aus der DDR, die seinerzeit nur im Westen erscheinen konnte. Im selben Jahr siedelte Melle nach West-Berlin über, wo er als freier Mitarbeiter für verschiedene Rundfunkanstalten arbeitete, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studierte und heute als freier Werbetexter und Schriftsteller lebt. Melles Weg ist konsequent; vom Lyriker zum Werbetexter, vom engagierten Zeitkritiker zum zeitgeistigen Romanschriftsteller. „Ich kann diese Sprachspielgeschichten nicht mehr hören“, sagte F. Hendrik Melle kürzlich in einem Interview, „damit haben wir jahrelang Messen und Bier verkauft. Sprachspiele, das macht heute jeder junge Werbetexter.“

Richtiges Leben beginnt mit dem Ende und endet wie der Anfang; der Roman funktioniert als Rückblende. Was dabei wie der Anfang eines durchschnittlichen Krimis anmutet, führt in die Irre; mehr noch: ins Chaos. Es sind verborgene Prinzipien, die die Geschichte vorantreiben und Eisenkolb in den Sog der Ereignisse ziehen. Kleine Irrtümer in den Anfangsbedingungen können große Folgen haben; ungewollt gerät der Kleine in den Krieg der Großen. Schließlich gehört auch er zu den Verlierern, Richtiges Leben kennt keine Gewinner.

Melles Roman zeigt großartige Ansätze, ein aktuelles Zeitgefühl widerzuspiegeln. Doch in der glatten Oberfläche verlieren sich Brüche und Verwerfungen, die Einblicke in die Tiefe des durchaus intelligenten Romans geben könnten, statt dessen regieren phasenweise coole Plattitüden und vordergründige Selbstironie. Kluge Gedanken verkümmern zu flapsigem Slang, die Doppelbödigkeit verliert sich in Andeutungen. Erst zum Ende findet der Roman zu seinem anfangs angeschlagenen Ton zurück. Dann werden aus Figuren wieder Charaktere mit Individualität, Gefühl und einer gesunden Portion Melancholie. Jürgen Deppe

F. Hendrik Melle: Richtiges Leben. 240 Seiten, gebunden, Albrecht Knaus Verlag, 34 Mark.

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