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berliner szenenKlappbare Sonnen­untergänge

Eigentlich kann ich nicht schon wieder über Sonnenuntergänge schreiben. Aber ignorieren kann ich sie auch nicht. Dafür sind es zu viele. Ich habe sie nicht nachgezählt, aber es sind bestimmt fünfzehn Stück. Sie sind alle DIN-A4 groß und dösen wie Katzen auf Fensterbänken auf den Arbeitsplätzen in der Heinrich-Böll-Bibliothek im Querformat vor sich hin. Denn dort haben sie es sich gemütlich gemacht. Sie sind nicht sofort zu erkennen. Sie liegen auf dem Bauch und zeigen einem nur ihre weiße Rückseite. Man muss neugierig genug sein, um sie umzuklappen. Es sind nicht nur urbane Sonnenuntergänge. Auf einigen steht auch das Meer in Flammen.

Wie sind sie in die Bibliothek gekommen? Haben sie sich nachts heimlich eingeschlichen? Unwahrscheinlich. Vielleicht gehören sie einer Auszubildenden, die Sonnenuntergänge sammelt wie andere Herzen auf Instagram. Vielleicht. Es ist aber auch möglich, dass sie einem älteren Bibliothekar gehören, der bald in den Ruhestand geht. Ein Kenner der Lyrik der deutschen Romantik. Nach Dienstschluss, wenn in der Bibliothek niemand mehr ist, liest er den Sonnenuntergängen bei einer Tasse Tee Gedichte von Joseph von Eichendorff, Bettina von Arnim und Novalis vor. Es war, als hätte der Himmel die Erde still geküsst, während vor den Panoramafenstern auf der Greifswalder Straße die Ostberliner Sonne versinkt. Das klingt wahrscheinlicher. Es klingt sogar sehr wahrscheinlich. Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass es ein kurz vor der Rente stehender lyrikbegeisterter Bibliothekar ist, der mit den Sonnenuntergängen am Feierabend eine gute Zeit verbringt. Als ich den Sonnenuntergang im Wattenmeer zurückklappe, steht plötzlich eine ältere Frau neben mir und grinst.„Sie?“, frage ich erstaunt. Sie grinst immer noch. Daniel Klaus

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